Raoul Vaneigem

AN DIE LEBENDEN!

Eine Streitschrift gegen die Welt der Ökonomie


Aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Walter Ott


Edition Nautilus



Editorische Notiz: Die Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel Adresse aux vivants sur la mort qui les gouverne et l'opportunité de s'en défaire (Adresse an die Lebenden über den Tod, der sie beherrscht, und die Zweckmäßigkeit, sich seiner zu entledigen) 1990 in der Editions Seghers, Paris. Die Übersetzung des Buches wurde gefördert von Cornmunauté française de Belgique (Brüssel) und Ministère de la culture et de la communication (Paris).


Von Raoul Vaneigem sind in der Edition Nautilus bereits erschienen: Das Buch der Lüste (1984, franz. Originalausgabe 1979), J.F. Dupuis, Der radioaktive Kadaver. Eine Geschichte des Surrealismus (1979, franz. 1977), Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen (1972, franz. 1967), Ratgeb. Vom wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung (1975, franz. 1974) sowie u.a. in Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten (1995).


Lektorat: Hanna Mittelstädt. Umschlaggestaltung: Maja Bechert.



Deutsche Erstausgabe
Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg
Am Brink 10 D-21029 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten © Lutz Schulenburg 1997
1. Auflage 1998
ISBN 3-89401-288-9
Printed in Germany




Klappentext außen hinten:


Eine vehemente Kritik der Ökonomie, die das menschliche Leben verarmen läßt. Eine Abhandlung gegen die Allmacht der Arbeit und die Tyrannei des Geldes; über die Kindheit und die Entstehung der patriarchalen Gesellschaft, die Fehlentwicklung der Zivilisation sowie die heilsame Wirkung der Leidenschaften als wirkliche Quelle des menschlichen Glücks.

"Jeden Tag so angehen, als ob er die Totalität des - intensiv oder dürftig erlebten - Daseins enthielte, das scheint mir eine Einstellung zu sein, in der das individuelle Schicksal mit vollem Bedacht die sicherste Wette eingeht, um sich zu verwirklichen.

Man mag denken, was man will, wichtig ist nicht, daß es einem gelingt, ein Ziel zu erreichen, sondern, daß das Schwingen der Bewegung und Zittern des Pfeils die Zielscheibe beinahe vergessen lassen; weiterhin, daß man jeden Morgen hartnäckig die Zeit wieder neu ins Leben ruft, von der eben gepflückten Lust zu der noch zu säenden mit solch aufrichtiger Freude oder Schwermut springt, daß man noch voller Verwunderung dasteht, wenn der Abend oder der Todesschlaf kommt."

(R. Vaneigem)



Klappentext innen vorne:


"Nach Georges Bataille wird Raoul Vaneigem zum Verfechter der verrufenen Sache ..." Le Monde


Diese Streitschrift ist eine vehemente Verteidigung des individuellen Erlebens und der Kostenlosigkeit der Bedürfnisse, die anstelle der tyrannischen Macht der Arbeit und des Geldes die Wesensmerkmale der menschlichen Lebendigkeit sind. In der Tradition eines Charles Fourier und in Anknüpfung an sein berühmtes Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen - eines der Schlüsseldokumente von 1968 - kritisiert Vaneigem systematisch die Grundlagen unserer heutigen Zivilisation.

Dem Autor gelingt es nicht nur, eine Fülle provozierender Thesen aufzustellen, er hat seine Kritik der Arbeit als ein Plädoyer für eine unmittelbar gelebte Menschlichkeit geschrieben. "An die Lebenden!" ermuntert dazu, die Wünsche nach einem Leben im Einklang mit den individuellen Bedürfnissen nicht länger "der gefräßigen Bestie der ökonomischen Todesmaschinerie" zu opfern. Die unablässige Heiligsprechung der Ökonomie negiert das konkrete Individuum, bewirkt den Schlaf seiner Vernunft, verkrüppelt seine Emotionalität und nährt so die Ungeheuer der Misere, die als soziale und ökologische Katastrophe die Basis der gelebten menschlichen Existenz verschwidnen lassen.



Klappentext hinten innen:


Raoul Vaneigem, 1934 in Belgien geboren, 1961 bis 1970 Mitglied der Situationistischen Internationale, Autor einer Reihe von kultur- und gesellschaftskritischen Büchern.


"Ein geistiger Donnerschlag: Vaneigem, der geistige Vater des Linksradikalismus, bringt die Debatte über die 'Warengesellschaft' in Gang ... Zu der großen Suche nach dem Zivilisationsgedanken, der das Jahr 2000 beeinflussen soll, hat Vaneigem den Beitrag einer großen Intuition geleistet; er setzt sich für das wuchernde Leben gegen die Systeme ein." Figaro






Inhaltsverzeichnis

Hier, jetzt und immer

I. DIE ENTSTEHUNG DER UNMENSCHLICHKEIT

Ende und Anfang

Das tägliche Exil

Die Allgegenwart der Arbeit

DAS KIND

Das Unglück der Geburt

Die Entdeckung des Kindes

Die Lehrzeit

Die Umkehrung der Priorität

Das Kind als Marktwert

Die nackte Wahrheit der Ökonomie

Das Ende der Werte

Die Lächerlichkeit der Macht

Die Krankheit als Zuflucht verletzter Kindheit

Die Wiedergeburt des Kindes

Die verfälschte Schöpfung

Die unterbrochene Evolution

Die unvollendete Geburt

Die Erziehung als Anpassung an das Überleben

Nur der wird Mensch, der aufhört, es zu sein

Gefühl und Nahrung

Zuneigung, Nahrung, Schöpfung

Die auf immer unvollendet gebliebene Kindheit

Die ökonomisierte Zuneigung

DIE GESCHICHTE ALS GEBROCHENE ENTWICKLUNG

Der Ursprung der Warenzivilisation

Die neolithische Revolution

Die Vorrangstellung der Frau

Die ursprüngliche Symbiose

Der Mensch der Natur und der Mensch der Ökonomie

Die natürliche Kostenlosigkeit

Die Religion entsteht mit dem Stadtstaat

Der Garten Eden im Herzen

Die Notwendigkeit, über die Animalität hinauszuwachsen

Die ursprüngliche Kreativität

Frau und Zivilisation

DAS ENTSETZEN VOR DEM VERDRÄNGTEN TIER

Die Herrschaft des Geistes

Das durch Arbeit gebändigte Tier

Eine halbmenschliche Zivilisation

Die Menschen des Überlebens ...

... sind die Menschen der Ökonomie

Die Verstümmelung der Geschichte

Der Fortschritt

DER AGRARKREIS

Das Grauen vor dem Draußen und dem Drinnen

Die Natur ist das Böse

Privat oder kollektiv - die Ökonomie entmenschlicht gleichermaßen

Die Unbeweglichkeit der Agrarwirtschaft

Die Beweglichkeit der Ware

DER KREIS DES HANDELS

Das Ende der apokalyptischen Zeiten

Die Vorgeschichte des Handels

DIE ARBEIT

Die Mechanisierung durch die Ökonomie

Die Kastration der Begierden

Die Abstraktion

Weltliche und geistliche Gewalt

Die Herabwürdigung der Erde und des Körpers

Die Partei des Todes

II. DIE ENTSTEHUNG DER MENSCHLICHKEIT

DAS HERVORTRETEN EINER ANDERSGEARTETEN WIRKLICHKEIT

Die Demokratie

Die Subversion

Die Hellsichtigkeit

Die Funktionen

Die Rollen

Das Ende der Funktionen und der Rollen

Die Authentizität

Das Ende der Stars

Die Medieninflation

Die Dualität der Rollen

Der Lebensstil

Das Leben soll gespielt und nicht repräsentiert werden

DAS ENDE DER HIERARCHISCHEN MACHT

Die fallende Kurve der ökonomischen Offensive

Die Herrschaft des Tauschwertes

Die Organisation

Die Verwaltung des Bankrotts

Die Rückkehr zum Konkreten

Der Zerfall aller Mechanismen, die auf das Lebende geklebt sind

Schluß mit dem Triumphgeschrei und dem Wettkampf

DAS ENDE DES RICHTERS UND DES SCHULDIGEN

Der Friede des Tausches

Wie der Preis der Sünde demokratisch wurde

Die Öffnung

Das Schwinden der Angst

Gegen den Rückgriff auf die Angst in der Ökologie

Natürliche Angst, denaturierte Angst und menschliche Behandlung der Angst

Die Justiz

Justiz und Willkür

Die Ökonomie erspart die Unterdrückung

Die Segnungen der Warenexpansion

Lob des Humanismus

Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit

Die Arbeit und der Tod

Die Selbstbestrafung

Jede Justiz ist schuldig

Gegen den Antiterrorismus

Gegen den Terrorismus

Das Leben vor allen Dingen

Die Milde

Gegen die Strafe

Das Schuldgefühl nährt die Gewalt

Die Abschaffung der Gefängnisse

Das Lösen der inneren Fesseln

Gegen den Respekt, den man dem Leben schuldet

DER NIEDERGANG DER MEDIZIN

Macht und Ohnmacht der Medizin

Die parallele Medizin

Die Sprache des Körpers

Die Geburt des Krankhaften

Die Drogen

Die Entwertung des Leids

Die Heilkraft des Genusses

Der Wille zum Leben und sein Bewußtsein

VON DER INTELLEKTUELLEN ARBEIT ZUR FRÖHLICHEN WISSENSCHAFT

Eine Wissenschaft der Ausbeutung von Mensch und Natur

Die gefälschte Wirklichkeit

Die Mauer des getrennten Denkens oder die Verzweiflung der Wissenschaften

Die Allergie gegen ein gewisses Wissen

Das Wissen zum Leben zurückführen

Die wissenschaftlichen Wahrheiten der Macht

Die fröhliche Wissenschaft

III. DIE MATERIA PRIMA UND DIE ALCHIMIE DES ICHS

DIE ZWEITE GEBURT DES KINDES

Nicht die verletzte, sondern die blühende Kindheit in sich selbst wiederfinden

Die aus dem Lebenden herausgerissene Zeit

Das Ende des Alters als Macht und Vorstellung

Die neue Zeit ist die Zeit der Kinder

Die Entstehung einer alchimistischen Beziehung

DER VORRANG DER LIEBE

Die Liebe ist mit der Ökonomie unvereinbar

Die Ideologie der Zärtlichkeit

Die Erbsünde

Die natürliche Kostenlosigkeit der Liebe

Die Liebe schließt das Opfer aus

Die Liebe ist die Verfeinerung des Begehrens

Die Allgegenwart der Liebe

Die zu gründende Souveränität

DIE HUMANISIERUNG DER NATUR

Die Rehabilitierung des Tieres

Die Emanzipation des Körpers

Der denaturierte Tod

Die Entweihung des Todes

Hic, nunc et semper

SCHÖPFUNG VERSUS ARBEIT

Das Elend der ökonomisierten Schöpfung

Man schafft nichts, ohne sich selbst zu schaffen

Die Arbeitslosigkeit - eine Arbeit ohne Arbeit

Die Investition in die Ökologie bietet der Ökonomie eine letzte Gnadenfrist

Das Umfeld des Lebens und seine örtliche Gestaltung

Die Stadt der Natur öffnen!

Von der Arbeit zur Schöpfung

Schöpfung und Hinauswachsen

DIE ALCHIMIE DES ICHS

Die denaturierte Alchimie

Die Behandlung des Negativen

Wir, die wir ohne Ende begehren

Die Erprobung ist die Zeit, in der die Genüsse aufbrechen.

Die Verfeinerung der Triebe - Grundlage einer neuen Gesellschaft

In der Umwandlung des Ichs ist die Umwandlung der Welt enthalten.







Hier, jetzt und immer

In einer Hoffmann'schen Novelle wundert sich der Erzähler darüber, wie ein allein an einem Tisch sitzender Mann durch die von Bierhallenmusikern elendiglich verpfuschte Ouvertüre von Gluck in Verzückung versetzt wird. Gedrängt, seine Begeisterung zu begründen, erklärt der Mann, der niemand anders als der Komponist selbst ist, folgendes: Wie schwach auch immer die Ausführung seines Werkes sein möge, so lasse sie zwar nicht die Vortrefflichkeit der Partitur in ihm wieder lebendig werden, wohl aber die ergreifenden Harmonien, die über seine Schöpfung walteten und für welche die Noten nur eine dürftige Skizze böten.

Was für die Genialität der Kunst wahr ist, gilt erst recht für die üppige Gegenwart des Lebenden. Gibt es etwas, das stärkeren Spott weckt als ein Liebesbrief? Welches Wort, welcher Satz wirkt nicht gekünstelt und manieriert angesichts der Heftigkeit und Heiterkeit der Leidenschaft, mit der sich der Körper ganz entdeckt? Man stelle sich die lächerliche Wirkung vor, sollte der Brief seinen Empfänger verfehlen und in die Hände der Portiersfrau fallen! Erreicht er aber das geliebte Wesen, so folgen die Worte dem Schwung des Herzens, sie deuten eine bereits in der Tiefe gegrabene Verbindung an und erklingen in einer Harmonie, deren Ausbreitung nur einfacher, auf einem beliebigen Instrument willkürlich angeschlagener Akkorde bedarf.

Ich war hier nur bestrebt, die wieder zutage tretenden Momente eines begehrenswerten Lebens miteinander zu verbinden, einige Takte einer Symphonie des Lebenden flüchtig zu notieren, die Zeichen einer anderen Wirklichkeit aufzudecken, die vom herrschenden Denken verheimlicht werden, indem dieses unaufhörlich und immer wieder in einem Weltbuch liest, das durch die Langeweile des eigenen Verfalls gestaltet wird.

Die Schwäche des Vorhabens liegt weniger an der stotternden Unbeholfenheit, mit der die neue Wirklichkeit sich auszudrücken versucht, als an der Macht der Vergangenheit, die gegen meinen Willen fortdauert.

Es ist nicht leicht, sich jeden Tag in das zu schaffende Leben zu verlieben, wenn jeder Tag für die Müdigkeit, für das Altwerden und für den Tod empfänglich macht. Und ganz gewiß ist das Verständnis seiner selbst eine Eigenschaft, die den wenigsten zuteil wird in einer Zeit, die unter Verständnis einzig das Wissen versteht, die eigene zunehmend absurde Unangemessenheit dem Lebenden gegenüber zu vervollkommnen.

Würde ich völlig gemäß meinem Begehren leben, so mischten sich unter die Lust zu schreiben, um mir Klarheit zu verschaffen über die Lust, besser zu leben - die einzige Art des Schreibens, an der ich Gefallen finde -, nicht so viele Ängste und Zweifel, die aus einer Buchführung entstanden sind, die mir fremd ist und mich mir selbst entfremdet.

Dagegen begeistert mich nichts so sehr wie die klare Wahl, die ich jeden Augenblick im Gewirr der Zwänge treffe - und zwar der Entschluß, alles auf die Karte der unermüdlichen Suche nach Liebe, Schöpfung und Selbstgenuß zu setzen, ohne die ich mir kein gültiges Schicksal zugestehen will.

Man wird wohl verstehen, welches Ungemach ich zur Fronarbeit, das Geld für den Monat aufzutreiben, hinzufügen würde, wenn ich mich überdies noch einem Markenzeichen unterordnete, einem Presse- oder Fernsehlabel, einer Rolle - gleichgültig ob anspruchsvoll oder lächerlich -, einer Medienrangordnung auf dem Kulturmarkt der Warengesellschaft.

Es kommt heute darauf an, sich in der Echtheit des eigenen Daseins zu entdecken, selbst wenn es schlecht gelebt wird und die kleinste Illusion ihr oft vorgezogen wurde, da das in seiner rücksichtslosen Offenheit nicht zu unterdrückende Verlangen nach einem anderen Leben eben schon dieses Leben ist.

Tatsächlich ist die Welt mir nicht fremd, aber alles ist mir in einer Welt fremd, die sich verkauft, anstatt sich zu schenken - sogar der ökonomische Reflex, dem meine Gesten manchmal folgen. Deshalb habe ich von den Menschen der Ökonomie mit demselben Gefühl der Distanz gesprochen wie Marx und Engels, als sie im Londoner Dreck und Elend eine Gesellschaft von Außerirdischen entdeckten mit "ihrem" Parlament, "ihrem" Westminster, "ihrem" Buckingham Palace, "ihrem" Newgate.

"Sie" stören mich in meinen bescheidensten Freiheiten mit ihrem Geld, ihrer Arbeit, ihrer Autorität, ihrer Pflicht, ihrem Schuldgefühl, ihrer Intellektualität, ihren Rollen, ihren Funktionen, ihrem Gespür für Macht, ihrem Gesetz des Tausches und ihrer Herdengemeinschaft, in der ich bin und in die ich nicht hinein will.

Dank ihres eigenen Werdens vergehen "sie". Durch die Ökonomie, deren Sklaven sie sind, bis zum Äußersten ökonomisiert, verdammen sie sich zum Aussterben, wobei sie die Fruchtbarkeit der Erde, die natürlichen Arten und die Freude der Leidenschaften mit in ihren programmierten Tod hineinziehen. Ich beabsichtige nicht, ihnen auf dem Weg der Resignation zu folgen, auf den die letzte Energie des in Rentabilität umgewandelten Menschlichen sie zusammenführt.

Es liegt nicht in meiner Absicht, Anspruch auf Entfaltung in einer Gesellschaft zu erheben, die sich kaum dafür eignet. Vielmehr will ich zu voller Entwicklung gelangen, indem ich sie gemäß den radikalen Umwandlungen, die sich in ihr abzeichnen, umwandle. Ich verleugne nicht das kindisch Eigensinnige an dem Willen, die Welt zu verändern, weil sie mir nicht gefällt und mir erst dann gefallen wird, wenn ich in ihr nach Belieben und Wunsch leben kann. Ist dieser Eigensinn denn nicht der Kern des Willens zum Leben? Ohne ihn ist der Scharfblick auf die Welt und auf sich selbst nur eine neue Verblendung; ohne die Hellsichtigkeit, die zur Stärkung die unerschöpfliche Üppigkeit des Lebenden anbietet, bleibt er ein Chaos, das schneller zerstört als erneuert.

Das Ende des ökonomischen Zeitalters fällt zusammen mit der Geburt einer Zivilisation des Begehrens. Die Mutation geht langsam vor sich durch eine neue Symbiose, die der Gesamtheit der lebendigen Wesen und Dinge ihren Vorrang zurückgibt, während eine neue Kostenlosigkeit - weit über die sanften Energien hinaus - lehrt, nach dem, was die Natur gibt, so zu greifen, daß sie sich noch weit mehr hingibt.

Daß jetzt mehr neue Ideen zutage treten, als - Fourier ausgenommen - Jahrhunderte des religiösen, philosophischen und ideologischen Denkens je zum Ausdruck gebracht haben, hat seinen Ursprung darin, daß im Laufe von zwei Jahrzehnten mehr authentisch menschliche Wirklichkeiten offenbar geworden sind als in zehn von der Wissenschaft der Macht und des Profits verwalteten Jahrtausenden.

Die Meinung, die Vorstellung vom Glück sei überall vorhanden, das Glück selbst dagegen nirgends, zeigt deutlich genug, daß es für niemanden eine wichtigere Sorge gibt, als das eigene Begehren zu erkennen und sein Schicksal mit der ständigen Ausübung seines Willens zum Leben in Einklang zu bringen. Diese Aufgabe verlangt die Geduld und die Ausdauer eines Alchimisten, der das Leben von all dem reinigt, was es verneint, und das Negative selbst ablegt, bis es durch die Kraft des Begehrens nur noch lebendige Gegenwart ist.

Soll man sich darüber wundern, daß die Suche nach dem Genuß eine beständige Aufmerksamkeit und Anstrengung voraussetzt, während wir immer wieder nur die Tugenden des Opfers und des Verzichts gelernt haben, die die Lebenskraft zur Arbeitsfähigkeit verkümmern lassen? Das gesamte Wissen der Welt hat uns nur dazu verleitet, von toten Dingen Besitz zu ergreifen und mit ihnen zu sterben, weil sie von uns Besitz ergriffen haben.

Sagt nach alledem, daß das Leben sich sehr gut aus eigener Kraft wehrt, sagt aber um der Genauigkeit willen auch, daß es zunächst darum geht, das Leben in sich selbst zu erkennen, das entgegenzunehmen, was es anbietet, es von seinen alltäglichen Hemmnissen zu befreien und zu einem Zustand der Unschuld zurückzuführen, in dem es endlich selbstverständlich ist.

Zu dem Zeitpunkt, da der Konkurs der Ökonomie als Überlebenssystem so vielen Bemühungen hohnspricht, die in die Sucht investiert wurden, noch mehr zu verdienen, der Beste zu sein und mehr zu besitzen, ist vielleicht ein Umschwung in der Einstellung vorauszusehen. Vielleicht kann der sich halsstarrig in der Arbeit zerrüttende Mensch die Schaffung menschlicher Wesen, der Dinge und der Umwelt als echte Lust am Leben wiederentdecken?

Der Tod kommt nur durch den alle Tage und Nächte hindurch geduldeten Tod. Der Bruch unserer Zeit besteht darin, daß die Verneinung des Lebens sich selbst zu verneinen anfängt und daß das Begehren mit der Entdeckung, daß es vor allen Dingen steht, eine zu schaffende Welt entdeckt. Dies ist die Revolution des Lebenden, sie ist die einzige, die es gibt, und auch wenn das ständige Grauen vor dem Tod sie weiter verheimlicht, so wissen wir jetzt, daß es, um dieses Grauen in uns und um uns herum aufzuheben, eine wachsende Leidenschaft des Begehrens gibt, die endlos ist.

R.V.






I. DIE ENTSTEHUNG DER UNMENSCHLICHKEIT


Ihr Leben wird beim Sprung aus dem Bett zerstört, wie es in der Kindheit und in den Anfängen der Geschichte zerstört worden ist.

Ende und Anfang

Woran erkennt man das Ende einer Epoche? Daran, daß eine plötzlich unerträglich gewordene Gegenwart in kurzer Zeit das kondensiert, was in der Vergangenheit nur mit großem Unbehagen ertragen wurde. Dann kann jeder sich mühelos davon überzeugen, daß er entweder bei der Geburt einer neuen Welt die eigene Geburt erleben wird oder aber im Archaismus einer Gesellschaft, die immer weniger dem Lebenden angepaßt ist, sterben wird.

Im ersten Licht der Dämmerung tritt eine Hellsichtigkeit zutage. Sie zeigt sogleich, wie weit die Geschichte aller und die Kindheit jedes einzelnen das Verlangen, Mensch zu sein, und den alltäglichen Zwang, darauf zu verzichten, auseinandergerissen haben.


Das tägliche Exil

Obwohl der Tag sich schön ankündigt, schlägt er immer in Enttäuschung um. Das Grau-in-Grau der Arbeit trübt das Licht. Das Rasseln des Weckers verleiht dem Reigen der Stunden eine militärische Strenge. Man muß losgehen, das Undeutliche der Nacht verlassen, dem Ruf der Pflicht folgen wie dem Pfiff eines unsichtbaren Herrn.

Die morgendliche Verdrießlichkeit bestimmt den Schauplatz. Die Augen öffnen sich vor dem symmetrischen Labyrinth der Mauern. Woher soll man im voraus wissen, ob man sich eher auf der einen als auf der anderen Seite, innerhalb oder außerhalb der Möbius-Cartoons befindet, in denen unaufhörlich Straßen, Wohnhäuser, Fabriken, Schulen und Büros auftauchen?

Sobald sie die Decke nächtlicher Träumereien voller Leichtsinn und Ruhelosigkeit zurückgeschoben haben, werden sie von der Notwendigkeit ergriffen, die sie zu dem Hin und Her eines mühseligen Schicksals schleift.

Die Zivilisation schindet sie. Nun stehen sie da, ausgerüstet für den Hindernislauf des Rekruten, bereit, eine Welt zu erobern, von der sie ihrerseits schon seit langem erobert worden sind und die sie nur mit den Füßen voran verlassen lernen.

Wo wären ihre Moral, ihre Philosophie, ihre Religion, ihr Staat, ihre gesittete Gesellschaft, all das, was ihnen das Recht gibt, allmählich und brav für etwas zu sterben, ohne das Trompetensignal, das sie auf den rechten Weg zurückbringt?

Eine eiserne Hand ist nötig, um sie daran zu hindern, dorthin zu gehen, wo es ihnen gefällt. Die nächtliche Beruhigung hat die peinliche Wirkung, sie vergeßlich zu machen. Wenn, wie sie versichern, die Gewohnheit eine zweite Natur ist, so gibt es also auch eine erste, die den Befehlen der Routine gegenüber zum Glück taub ist. Aus dem Schlaf gerissen, sträubt sich der Körper tatsächlich; er wehrt sich, bäumt sich auf, rekelt sich und streckt sich faul in die Länge. Der Kopf mag noch so sehr darauf bestehen und beharren, der Körper - dieser Lümmel - bleibt dabei, niemals bereitwillig hinzugehen. Das Gefühl läßt sich nicht besser beschreiben: Um mit ganzem Herzen bei der Arbeit zu sein, muß man fast herzlos sein.

In der Sonne und im Bett drängen anbrandende Verpflichtungen den Schaum wollüstiger Verlockungen zurück. Die Weichheit der Laken, das Umschlingen nackter Arme, die Gegenwart des geliebten Menschen, die Lust, durch Straßen und Felder zu schlendern - alles flüstert mit verwirrender Einfachheit: "Nimm dir Zeit oder die Zeit nimmt dich ... Es gibt nur die Lust oder den Tod."

Auf schnelle Berechnung gedrillt, hat der Verstand aber bald wieder die Herde der Zwänge zusammengetrieben. Schon in der ersten Phase der Überlegung senkt sich das buchhalterische Gitter der Arbeitszeit herab, es läßt die Begierden - ohnehin nur Trugbilder! - nicht durch.

Der Tagesablauf, gehörig gerastert, schreibt eine zwar gewählte, aber widerwillig gewählte Wirklichkeit ins reine - zu Lasten einer anderen Wirklichkeit, derjenigen des Körpers, der lauthals die Freiheit einfordert, endlos begehren zu dürfen.

Alles läuft so ab, als ob es nur eine einzige Welt gäbe, während die zweite sich im Nebel eines kindischen Märchenreichs verflüchtigt. Das Porzellan der Träume zersplittert in der Aufregung der Geschäfte und der lukrativen Tätigkeiten - und dies buchstäblich in einem Augenblick.

Der Abend fügt die Überreste der arbeitenden Menschen wieder zusammen. Dann verleimt die Nacht die Begierden erneut, die der Besen mechanischer Griffe zum Abfall gekehrt hat. Sie bessert sie aus, so gut es eben geht: zehn falsche, eine richtige - auf die Liebe hin, falls sie noch da ist.

Im Morgengrauen wiederholt sich das Szenario, angereichert mit den Mühen des Vortags. Sind endlich Tag und Nacht durcheinandergebracht, umschließt das Bett einen endgültig besiegten Körper und begräbt in seinem Leichentuch ein Leben, das so oft fast erwacht wäre.

Dies nennen sie die "harte Wirklichkeit der Dinge" oder, mit ergötzlichem Zynismus, die "conditio humana".


Sie verbringen die Woche in der Erwartung, daß die Arbeit Sonntagskleider anlegt

Die Allgegenwart der Arbeit

Sie ziehen von Montag bis Freitag ihre Dienstuniform an - so gehen sie zur Freizeit, wie sie zur Fronarbeit gehen. Fast spucken sie in die Hände, bevor sie einen Pernand-Vergesseles kippen, in den Louvregängen herumschlendern, Baudelaire rezitieren oder wild Unzucht treiben.

Zur festgesetzten Zeit und Stunde verlassen sie die Büros, die Werkstätten und die Ladentische, um sich im gleichen Takt der Bewegungen in eine abgemessene, verbuchte Zeit zu stürzen. Stück für Stück wird diese Zeit mit Namen beschriftet, die wie Fläschchen klingen, die man fröhlich öffnet: Wochenende, Urlaub, Feier, Ruhe, Freizeit, Ferien. So sehen die Freiheiten aus, die ihnen die Arbeit bezahlt und die sie mit ihrer Arbeit bezahlen.

Mit großer Sorgfalt üben sie die Kunst, der Langeweile Farbe aufzutragen, indem sie die Leidenschaft am Preis der Exotik, eines Liters Alkohol, eines Gramms Kokain, der Ausschweifung, der politischen Auseinandersetzung messen. Mit versiert-stumpfem Auge beobachten sie die kurzlebigen Notierungen der Mode, die von Rabatt zu Rabatt den Absatz der Sonderangebote kanalisiert: Kleider, Fertiggerichte, Ideologien, Ereignisse und die Stars auf dem Gebiet des Sports, der Kultur, der Wahlen, des Verbrechens, des Journalismus und der Geschäfte, die das Interesse an alldem wachhalten.

Sie glauben ein Leben zu führen, aber das Leben führt sie durch die nicht enden wollenden Hallen einer alles umfassenden Fabrik. Ob sie lesen, basteln, schlafen, reisen, meditieren oder vögeln, sie gehorchen fast immer dem alten Reflex, der jeden Arbeitstag hindurch die Führung hat.

Macht und Profit halten die Fäden in der Hand. Sind die Nerven rechts überspannt? Sie entspannen sich links, und die Maschine springt wieder an. Eine Belanglosigkeit ist in der Lage, sie über das Untröstliche hinwegzutrösten. Nicht ohne Grund haben sie jahrhundertelang unter dem Namen Gott einen Sklavenhändler verehrt, der nur einen von sieben Tagen zum Ausruhen zugestand und darüberhinaus verlangte, daß dieser seinem Lobgesang gewidmet sei.

Und dennoch fühlen sie, wissen sie am Sonntagnachmittag, so gegen vier Uhr, daß sie verloren sind, daß sie, wie in der Woche, das Beste von sich in der Morgendämmerung zurückgelassen haben, daß sie nicht aufgehört haben zu arbeiten.


Sie erziehen das Kind in der gleichen Art, wie sie selbst jeden Morgen aufstehen im Verzicht auf das, was sie lieben.

DAS KIND

So lange sie sich verbissen weigerten, ihre geheimen Begierden zur Kenntnis zu nehmen, geruhten sie, nichts vom Kind wissen zu wollen. Ihre Hauptsorgen, nämlich Kriege zu führen und zu regieren, erlaubten ihnen kaum, sich über ein so kleines Wesen zu beugen.

Betrachtet man dies mit dem Abstand von Jahrhunderten, so erschreckte sie eigentlich vor allem dieses immer neue Leben, das aus dem Bauch der Frau hervorkommt, um zu wachsen und sich zu vermehren. Der Spiegel ihrer vergangenen Eigenart ließ aus ihrer Kindheit eine undeutliche Erinnerung an eine Existenz aufsteigen, die zu allen Hoffnungen berechtigte. Dies war ein Ärgernis, und der Knebel des Erwachsenenalters ließ nicht nach, es ersticken zu wollen.

Sie haben das Kind gehaßt und gleichzeitig sich selbst; sie haben es zu seinem eigenen Wohle geschlagen; sie haben es in der Ohnmacht, das Leben zu lieben, erzogen, einer Ohnmacht, in der sie sich selbst befanden.


Sie haben die Idee verbreitet, daß der Tod die wahre Geburt sei.

Das Unglück der Geburt

Während das Römische Reich seinen Merkantilismus bis zu den Grenzen der bekannten Welt durchsetzte, hat die christliche Mythologie es virtuos verstanden, die Allgegenwart der Ökonomie zum Ausdruck zu bringen. Der zyklopische Gott, dessen einziges Auge über das Universum herrschte, hatte den Vorteil, das Schicksal des Kindes seinen Absichten gemäß zu ordnen, nicht verkannt.

Was berichtet die Legende von Christus? Daß er Mensch gewordener Gott in einer mütterlichen Grotte war, in der zwischen Mensch und Tier Harmonie herrschte. Er soll, nachdem er in der Wiege die kostbaren Gaben dreier Magier des irdischen Königreiches empfangen hatte, von seinem göttlichen Vater dazu verurteilt worden sein, das Kreuz des Lebens, das ihm nützlicherweise als Sarg diente, zu tragen und die Pforte des Todes zu durchschreiten, um den Preis für seine Leiden in himmlischer Währung entgegenzunehmen.

Er ist Gott bis zur Geburt und Gott jenseits des Grabes. Zwischen den beiden Polen des Ruhms bestimmt ein Tal der Tränen den Lauf seines Schicksals. So lernt auch das Kind, aus dem Paradies des Uterus vertrieben, sein Leben "perinde ac cadaver" zu ökonomisieren, um das Wegegeld zum himmlischen Überleben entrichten zu können.

Man ersetze die Hoffnung, zur Rechten des Herrn zu sitzen, durch das Versprechen einer schönen Zukunft, so hat man die Bestimmung des Neugeborenen, seit die aufgeklärte Wissenschaft den religiösen Obskurantismus beseitigt hat.


Die Entdeckung des Kindes

Das 20. Jahrhundert hat nicht die Kurzsichtigkeit geheilt, es hat aber die Offensichtlichkeiten vor die Nase gerückt. Der Hellsichtigkeit geht es deswegen nicht schlechter. Dem Kind auch nicht, das sie immer vor Augen hatten, ohne daß sie es wirklich sahen, und das sie jetzt aus der Nähe prüfen, weniger aus Überzeugung als aus Zwang. Ihre Beobachtung stellt sie vor die schmerzhafte und erregende Überschneidung der Gegensätze, in der sie jeden Morgen zu sich kommen und sich wieder aufgeben. Das Kind, das einst dem erwachsenen Gewissen ein Kreuz war, hat sich wie ein klarer Scheidepunkt auf die Kreuzung gestellt. Ein Scheidepunkt der Zivilisation.


Die Lehrzeit

Das Kind öffnet sich dem Leben durch den Umgang mit der Lust, und der Umgang mit der Lust eröffnet ihm den Zugang zur Welt. Lernen, an Lebewesen und Dingen Freude zu haben, ist die wahre Intelligenz; im Vergleich dazu ist die glänzendste Intellektualität eine Schau der Dummköpfe, der Armen an Lebensgehalt.

Dies ist kein neuer Gedanke, aber es ist ein weiter Weg vom Gedanken zum Begehren, aus dem jede Wirklichkeit entsteht. Das Wissen steigt ihnen nach so alter Tradition durch Arschtritte zu Kopf, daß sie den Weg über das Herz für unnütz und für Zeitverschwendung halten. Übrigens, wie soll man dieser ganz besonderen Wirksamkeit des kürzesten Weges auch entkommen, solange die Firma Familie & Schule für das Kind ein Ausbildungsprogramm bereithält, das ebenso tauglich für die Geschäfte wie untauglich für das Leben ist?

Einige Jahre noch wird sich der Brauch halten, das Kind aus dem Wirrwarr des Lachens und Weinens herauszureißen, ihm den Faden der Befriedigung und des Unbefriedigtseins wegzunehmen, der es zu einer fortschreitenden Verfeinerung führt. Anstatt es im Labyrinth der Gefühle an der Hand zu nehmen, wo so viele Kenntnisse an Klarheit und Tiefe gewinnen würden, stoßt ihr es genau dahin, wo auch ihr hindurchgegangen seid, um euch zu verlieren. Ihr zieht das Kind weiter in ein vertracktes Netz moralischer und gesellschaftlicher Übereinkünfte, in ein Durcheinander von Zwängen und Täuschungen, in einen Knäuel von Spitzfindigkeiten, die in gleicher Weise geeignet sind, die anderen wie sich selbst zu betrügen.

So versinkt die Welt des Genusses in den Niederungen des Unbewußten. Später werden die Psychoanalytiker, die Entdecker absichtlich versunkener Kontinente, Strandräuber spielen; sie werden Objekte der Begierde und des Abscheus an die Oberfläche bringen und sie ihren Eigentümern wiederverkaufen, die häufig nichts mehr damit anzufangen wissen und den besten Teil davon als Erinnerung behalten.


Die Umkehrung der Priorität

Erst die Arbeit - dann das Vergnügen! Das ist das Leitmotiv, das wie ein Abzählvers klingt und vom Kopf nach unten den Bewegungen des Körpers einen militärischen Rhythmus gibt. Das ist die alte Leier, harmlos, aber eindringlich, die den Rückzug der entstehenden Intelligenz begleitet. Und sicherlich wird bald eine andere Intelligenz unter der eisigen Führung der Arbeit das Feld besetzen, eine Intelligenz, bei der das Herz am wenigsten zählt und am besten versteinert.


Sie haben das Kind entdeckt, indem sie den Spuren des Menschenfressers folgten.

Das Kind als Marktwert

Ihre Großzügigkeit ist meist nur das Almosen, das der Profit demjenigen überläßt, der ihm dient. Hat es ihren Negern nicht genügt, Käufer von Kühlschränken, Autos und verdorbenen Medikamenten zu werden, um von der Bestialität zum Status menschlicher Wesen hinüberzuwechseln? Wie ist das Proletariat zu dem demokratischen Recht gekommen, seine Herren zu wählen? Gewiß weniger durch die Vermehrung seiner letzten Gefechte als aufgrund eines Marktes, der auf der Suche nach Massenkundschaft ist. Mehr als allgemein angenommen verdankt sich die Gleichheit dem Auftauchen von tiefgefrorenen Spaghetti mit Trüffelersatzgeschmack auf allen Tischen.

Als der menschenfressende Merkantilismus Zeichen der Ermüdung und der Sattheit unter den afrikanischen Nationen und den westlichen Nomaden bemerkte, die, mit dem Scheckheft in der Faust, die Regale der Läden plünderten, stieg er auf der gesellschaftlichen Leiter tiefer, um sich eine allerletzte Nahrung zwischen die Zähne zu schieben.

In den fünfziger Jahren war das Kind außerhalb der Familie und der übelsten Kriminalität ohne Wert: etwas mehr als ein Hund, etwas weniger als ein Neger, ein Handlanger oder eine Frau. Eine alte Regel gab den Rat, es wie eine Münze zu schlagen, es wie Ton zu formen, es im Feuer der Prüfungen zu härten, es auf die gewinnbringende Zukunft einer Ziervase hin mit Wissen zu übermalen.

Dreißig Jahre später entdeckte die Verkaufsförderung die Achse der schönen Gefühle und ordnete die lieben Kleinen in das Koordinatensystem ein. Seitdem reißt sich jeder darum, ihnen das Abendmahl ohne Beichte zu gewähren, eine Kreditkarte, ein Bankkonto, einen Computer, eine Fast-Food-Packung - und schließlich das Recht, laut zu sprechen, mit "Sachkenntnis" zu entscheiden, auf dem Weltmarkt des Konsums eine Option durchzusetzen.

Dennoch läuft die Ökonomie Gefahr, sich die Pfoten zu verbrennen, wenn sie die letzten Reserven herauskitzelt. In ihren Berechnungen haben die Spezialisten des Marketing vergessen, daß das menschenfressende Ungeheuer unausweichlich unter den Schlägen einer unschuldigen Hand endet. Die Warenoffensive hat den Punkt der äußersten Verletzlichkeit erreicht, indem sie sich der Quelle des Lebens nähert.

Der Reklameschwindel, der das Kind älter machte, indem er es als gewitzten Verbraucher verkleidete, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, es vom Status eines untergeordneten Wesens zu befreien. Aber haben sie denn geglaubt, es wirklich in ihre Hand zu bekommen, sie, die keine andere Perspektive als den unmittelbaren Profit haben und alles nur durch ihre eigene Brille sehen? Haben sie es für möglich gehalten, sein Bewußtsein ungestraft steigern zu können, um es sogleich wieder zu dem schwach-sinnigen Herdenwesen zu erniedrigen, das die Verbraucher von gestern gerade zu verabscheuen beginnen?

Wie hastig wird es mit Zuchthunden und Hauskatzen verwechselt, auch wenn diese, ungefähr gleichzeitig mit ihm, aus einer gesteigerten Aufmerksamkeit und Achtung Nutzen gezogen haben! War es denn glaubhaft, daß nach dem Vorbild vergangener Generationen ein Pfiff ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen, es in den Krieg gehen oder einen Führer wählen ließ?

Das hieß außerdem, die Veränderungen unberücksichtigt zu lassen, die den Verhaltens- und Denkweisen von der sich entwickelnden Ware aufgeprägt wurden. Je weiter die Tyrannei innerhalb der Familie aus der Mode kommt und der Verfall des Patriarchats dem brutalen Zwang und der abgefeimten Lüge ein Ende macht, desto besser unterscheidet das Kind jene Wahrheit des Menschlichen und jene des Unmenschlichen, die die Menschen untereinander verbindet oder voneinander trennt und die es früher wegen einer Ohrfeige, eines finsteren Blicks oder des Hochziehens der Augenbrauen voll Bitterkeit schlucken mußte. Unter dem Samthandschuh, den das merkantile Entgegenkommen ihm reicht, hat das Kind schnell die Eisenhand gespürt, fein gegliedert, die ihm seinen Anteil entreißen will. Gelobt sei die Litanei: "Bediene dich, nimm, was du willst, und bezahle am Ausgang!" Nichts hätte das Kind vom widerlichen Charakter des Handels besser überzeugen können. Nichts wird es besser vorbereitet haben, absolut und überall die Erpressung abzulehnen, die immer die verheerendsten Folgen hat. "Gehorche, oder ich liebe dich nicht mehr."


Der Blick auf das Kind läßt im Herzen des Erwachsenen die Gegenwart eines unvollendeten Lebens aufleuchten, das zwischen Geburt und Tod pendelt

Die nackte Wahrheit der Ökonomie

Picabia hebt das Scheitern einer Zivilisation hervor, die jeden aus seinem eigenen Körper vertreibt, indem er feststellt: "Den Menschen fehlt das am meisten, was sie besitzen: die Augen, die Ohren, der Arsch."

Um den Lauf der Welt kennenzulernen, zu verabscheuen und zu bewundern, hat eine freiwillige Verblendung jahrhundertelang vorgeschrieben, sich zu verkennen und sich nur zu erforschen, um sich zu verachten. Wenn ein Geschlecht von Einäugigen heute auf eine Ahnenreihe folgt, die auf geistige Blindheit gegründet war, so ist dies weniger die Auswirkung einer Mutation der Intelligenz als eines Zusammentreffens von Umständen, in denen jeder angeleitet wird, nur aus der eigenen, unmittelbar erlebten Erfahrung einen sicheren Weg zu finden.

Es gibt kaum noch Äste, die hoch genug sind, damit die Gefährten des Todes sich an ihnen aufhängen oder auch daranhängen können. Die Systeme, die im Namen des Himmels die Welt regierten, sind mit Spott und Hohn untergegangen. Man zeige mir einen einzigen dieser ewigen Werte, der noch aufrecht auf seinem Podest steht, durch den die Gesellschaften sich Verehrung erzwangen und sich gleichzeitig den Lebenden verweigerten!

Welche Glaubwürdigkeit haftet noch an den Lügen, deren Ungeheuerlichkeit die Begeisterung und die Grausamkeit ihrer Anhänger wie eine Flut hochspülte, jede Sache unterstützte, sei sie edel oder niederträchtig, und die Horden fanatisierter Parteigänger den Flammen einer qualvollen Ekstase preisgab?

Die Ökonomie hat aufgehört, sich hinter den Trugbildern Gott, Teufel, Verhängnis, Gnade, Fluch, Natur, Fortschritt, Pflicht, Notwendigkeit zu verbergen, womit die Epochen einer unvermeidlichen Leichtgläubigkeit sie ausstaffiert hatten. Sie schert sich nicht mehr um die liberale Seidenrüsche oder um die leninistische Arbeitermontur, es ist ihr völlig gleichgültig, ob sie für irgendeinen großen Sprung nach vorn den Faschistenstiefel oder das Sozialistenschühchen anzieht. Ihre Einfachheit entblößt sie, ihre Allgegenwart macht sie heimisch und vertraut.

Da sie sich in die äußerste Zwangslage versetzt sieht, überleben zu müssen, faßt die Ökonomie die Summe ihrer vergangenen Lügen in einer einzigen zusammen: Es gebe ohne sie keine Rettung für das Überleben der Menschheit.


Das Ende der Werte

Die alten Prinzipien, die man den Kindern eingeschärft hatte, sind durch den fortschreitenden Entzug gänzlich heruntergewirtschaftet, in dessen Verlauf die Macht der Ware die meisten herkömmlichen Werte in Zweifel gezogen hat. Man pfeift also auf das Opfer für das Vaterland, auf die Hingabe an ein Amt, auf den Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten und scheißt auf die Verweigerung und die Rebellion, die ihnen auf derselben Ebene des Hasses und der Verachtung Genugtuung verschafft haben. Platz da für die Ökonomie unter ihrem richtigen Namen, der da lautet "Mach Geld und kümmer dich um nichts!"

Die achtziger Jahre hatten eine Art Offenheit in Mode gebracht, die einen Pfennig einen Pfennig nannte, den Profit lobte, finanzielle Machenschaften rehabilitierte, den Kampf der Börsenspekulanten verherrlichte und Geschäfte auf die Höhe sportlichen Ruhms hob. Ganze Trupps kühner Denker hatten die Tugend der Arbeit wiederhergestellt, die Dynamik des Privatunternehmens belebt und einen kapitalistischen Geist zu neuem Leben erweckt, der seit seiner staatswirtschaftlichen Umstellung auf den Hund gekommen war - eine eitle und kurzlebige Anmaßung.

Kaum ein Jahrzehnt brauchte die Hochzeit zwischen Geschäftemacherei und Privatinitiative, um die Börsenkrise, die Arbeitslosigkeit, die Abwertung und den industriellen Zusammenbruch als Geschenke zu hinterlassen - ein Modell also, das Schülern, die gemäß einem bildungspolitischen Plan zur großen Armee des wirtschaftlichen Aufschwungs eingezogen werden sollten, wenig Mut machte.

Als ob die Gewißheit, daß die Ökonomie weder im ersten noch im zweiten Anlauf in Gang kommen wird, sie der Zukunft beraubt, nehmen sie im Kind und in der eigenen, fernen Kindheit verschwommen den Keim einer radikal anderen Existenz wahr. Seit ihre Kleinen aufgehört haben, vor dem Altar der Leitbilder zu knien, weil es nur noch Grimassen nachzumachen gab, fragen auch sie sich, warum sie darauf verzichten sollten, ihr eigener Herr zu sein, warum sie sich davor hüten sollten, auf Lebewesen und Dinge aus reinem Vergnügen zuzugehen. Es gibt ja schließlich keinen Grund, sich für den Krieg zu bewaffnen, eine berufliche Laufbahn zu ergreifen, an der Börse zu spekulieren oder sich in Konkurrenzkämpfe zu stürzen, die gleichermaßen schiefgehen. Warum sollten sie sich der Lächerlichkeit und der Enttäuschung aussetzen und stumpf die Gesten wiederholen, die einem das Leben rauben und zum Ausgleich nicht einmal einen Nutzen anbieten?


Die Lächerlichkeit der Macht

Von allen Parteien, die auf dem abgewirtschafteten Feld der Politik und der Geschäfte die Flucht ergriffen haben, bleibt nur ein einziger aktiver Klüngel, derjenige der Macht. Mit ihm muß man rechnen, denn er argumentiert mit dem Tod; der Tod jedoch ist dabei, das Monopol absoluter Überzeugungskraft zu verlieren.

Schaut doch mal, wie alt die Meister des Denkens und Handelns plötzlich geworden sind, seitdem sie sich nicht länger auf Religionen und Ideologien stützen können, um ihren Ehrgeiz aufrechtzuerhalten.

Ihr Dasein sollte genau dem Fernsehbild entsprechen, das sie der spöttischen Ergebenheit der Massen liefern. Sie glauben noch immer zu faszinieren, während sie nur geröntgt, von innen her durchleuchtet und einer ärztlichen Diagnostik unterzogen werden, die sie ganz selbstverständlich als Kranke behandelt. Sie versuchen vergeblich, sich nach den Ansprüchen der Mode zurechtzumachen, die Mode jedoch nutzt sich mit beschleunigter Geschwindigkeit ab wie das Spektakel selbst. Sie werden nach kurzer Zeit altmodisch und kaum spielen sie einen neuen Frühling vor, sind sie schon mitten im Winter.

Solange der Blick der Massen durch die Sprache der Ideologie verschleiert wurde, unterschied das Auge nicht mit solcher Schärfe, daß die Medienberühmtheiten nur etwas Mechanisches sind, das gewaltsam dem Lebenden aufgedrückt wird. Heute füllt der Atem der Geschichte ihre leeren Worte nicht mehr mit frischer Luft, ihre einstudierten Gesten gehen fehl, ihre Mittel ziehen nicht mehr. Die Hintergründe ihrer gescheiterten Menschlichkeit kommen ans Licht und sie stellen unter ihrer selbstgefälligen Miene das runzlige Gesicht eines Kindes zur Schau, das niemals geboren wird.

Staatsoberhäupter, Stammeshäuptlinge, Cliquenführer, Polizisten, Unternehmer, Politiker, Minister, Militärs, Volkstribune, Stars, Bürokraten und vertraute Überbleibsel des Autoritarismus haben bei der Gemeinheit, die sie alle kennzeichnet, ein Kind im Bauch, einen Fötus im Glas, einen vertrockneten Embryo im Herzen. Je verbissener sie sich bemühen, es zu beschwören, desto offener zeigt sich ihr unterdrücktes kindisches Wesen.

Dieses Aufstampfen der verletzten Eitelkeit, dieser anklagende Finger, dieses erbärmliche Jammern, dieses hinterhältige Lächeln, dieses aggressive Schuldgefühl, diese Verachtung des Richters kurz davor, selbst gerichtet zu werden - nichts anderes als Mätzchen gepeinigter Kinder, aufgebrochene Wunden der Vergangenheit, ungeschickt verborgen hinter der Würde und dem Ernst des verantwortlichen Erwachsenen?

Erwarten sie denn noch immer, daß man an sie glaubt? Man würde viel eher an ihre Menschlichkeit glauben, wenn sie darauf verzichteten, die Menschen wie durch Ohrfeigen und Lügen verblödete Rotzlöffel zu behandeln, und sich stattdessen entschieden, die gelebte Authentizität dem lächerlichen Prestige des Scheins vorzuziehen, und wenn sie einfach wieder zu dem zurückkehrten, was sie sich an Lebendem bewahrt haben, wie wenig es auch sein mag.

Aber wie soll derjenige lernen zu leben, der nur gelernt hat, sich zu demütigen und andere zu beherrschen?


Die Krankheit als Zuflucht verletzter Kindheit

Die vergangenen Epochen boten vielfältige Gelegenheiten, hei denen das Ressentiment einer zerrissenen Kindheit die Wahl hatte, sich zu betätigen. Es genügte gewöhnlich, Neger, Bourgeois, Proletarier, Erbfeind oder das Weibsbild am Herd zusammenzuschlagen, um Wut und Mißmut einzudämmen, die von einem vergifteten Leben verwesender Begierden ununterbrochen Nahrung erhielten.

Solche Ventile sind aber beim zunehmenden Verlust jeglicher großen Sache allmählich abhanden gekommen, bei der ihre Zivilisation auf ihre Kosten kam. Sie haben fast ein Jahrhundert gebraucht um zuzugeben, daß der Schmerz, der ihnen Bauch, Herz oder Kopf durchbohrte, weniger aus einer zufälligen Krankheit herrührte als aus einer Kindheit, hinter der sie brutal die Tür des Erwachsenenalters zugeworfen hatten und die überall luftschnappend anklopfte.

Gewohnt, alles von der negativen Seite her zu sehen und anzugehen, empfanden sie Entsetzen bei dem Gedanken, das Leben in sich zu tragen. Die Panik schleppte sie von der Couch des Psychoanalytikers in den Operationssaal. Die Hast, sich von einer Gegenwart zu befreien, die von Begierden durchdrungen ist, befruchtete sie mit einem tödlichen Samen, mit einer Vitalität, die verkehrt wächst, mit einer Panik der Zellen, mit einer rückwärts gewandten Flucht, wobei der Organismus zu einem Krebs wurde, zum Krebsgeschwür.

Das Ende des 20. Jahrhunderts hat zu einer Verwirrung geführt, von der die Vermehrung der Überlebenskrankheiten zeugt. Seitdem der Krieg, die Revolution, der Aufstand, der legalisierte Mord nicht mehr den Vorwand für die Neigung zum Selbstmord liefern, ist für viele die Wahl des Todes eine Art täglicher Zeitvertreib geworden. Sie vergiften sich das Blut jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit gehen, sie unterdrücken ihre Begierden den ganzen Tag lang, sie sperren ihren Überschwang in den Schrank, sie drehen der kindlichen Lebendigkeit den Hals um und knicken ihre Lebenslinie genau an der Stelle, wo die Leidenschaft sie verlängert hätte. Zumindest ist im allgemeinen Bewußtsein folgendes deutlich geworden: Es gibt bei der Spaltung zwischen Welt und Individuum nur noch eine einzige Grenze, sie scheidet mit immer größerer Klarheit die Zone, in der die Parteinahme für den Tod tätig ist, von den Orten, die die Entstehung eines Lebensstils begünstigen.


Die Wiedergeburt des Kindes

Weit mehr Leute als man glaubt knüpfen wieder an ihre Kindheit an, nicht an jene, die von den mechanischen Griffen getötet wird und deren Autopsie auf der Couch des Psychoanalytikers stattfindet, sondern an jene, die auftaucht, wenn das Begehren ruft. Von den Kindern, den eigenen oder fremden, leihen sie gern ein Wissen, das ihnen beim vertrauensvollen Zugang zu einem Leben hilfreich ist, das endlich in seiner Üppigkeit angenommen wird. Nichts bereitet sie besser vor, die List der Krankheit zu vereiteln und vor allem dem quälenden Eindruck ein Ende zu setzen, der gelungene - durch die Vereinsamung des Lebemanns im Alkohol beschleunigte Tod bliebe die einzige Hoffnung für ein verpfuschtes Leben.

Obwohl die Ordnung in der Familie immer noch zu ihren Befugnissen gehört und sie die Pflicht haben, sie wohl oder übel aufrechtzuerhalten, ist es ihnen in den meisten Fällen zuwider, am Kind jenen leisen Mord zu begehen, dessen übliche Opfer sie selbst in jungen Jahren gewesen sind. Die Eltern haben den Hochmut aufgegeben, den die patriarchalische Tyrannei ihnen einst als Erbschaft auferlegt hat. Sie strafen nachgiebig, verdreschen wenig und eher aus Ungeschicklichkeit, schreien weniger und diskutieren und palavern mehr. Und vor allem in einer besonders empfindlichen Angelegenheit haben sie ihre Haltung geändert: Sie gewähren ohne Zögern und Einschränkung eine Zuneigung, die immer Gegenstand einer Erpressung von Schutz und Unterwerfung war.

Das Kind hat wahrgenommen, wie stumpf der Stachel des blöden Zwangs geworden ist, es hat daraus den Vorteil gezogen, bequemer dahin zu gehen, wohin das Verlangen es drängt, und die Worte laut auszusprechen, die die Natur überall murmelt. In denjenigen, die sich als seine Meister eingesetzt hatten, ohne jemals etwas anderes gemeistert zu haben als die eigene Agonie, erweckt das Kind ganz unvermutet einen Lebenshunger, der von den Intrigen der Arbeit in Lethargie getaucht worden war.

Ist es nicht ein wahres Wunder, das Kind nur nach Lust und Laune herumschwirren zu sehen? Es bemächtigt sich des Glücks, sobald es in seine Reichweite gelangt, es bemüht sich voller Findigkeit um die Wiederkehr glücklicher Augenblicke. Die Wirklichkeit, die es aufdeckt, ist das Zentrum eines Labyrinths, in dem sich so viele geschickte Manöver, so viele Prahlereien und Ausflüchte verirren. Es ist die Authentizität, die unaufhörlich wiedergeschaffene Übereinstimmung des Körpers mit den ihn verfeinernden Begierden. Die aggressive Infantilität und die weinerliche Senilität der Erwachsenen war niemals etwas anderes als ihre Lüge, die "kindliche Rückseite des Menschen".

Spontan lernt das Kind, die Augen stets wie zum ersten Mal zu öffnen, die Farbe der Blätter zu unterscheiden, eine Landschaft zu lesen, die Sprache der Vögel zu verstehen und die Anmut eines Augenblicks einzufangen - eines Augenblicks, der nicht länger durch die Schneide der Axt zugespitzt, über Kimme und Korn des Gewehres gekniffen und von der Zange des Gedankens an Vergänglichkeit und Tod erfaßt wird. Auch das "innere Kind" erlaubt es jedem, in sich den Saft des Frühlings, die Wildheit der Tiere, die Wollust einer Liebe aufsteigen zu lassen, aus der nur Liebenswürdiges entstehen kann.


Welch seltsame und unvollkommene Alchimie der Liebe! Sie empfängt und bringt das Kind zur Welt in zwei aufeinanderfolgenden Verwandlungen, ohne jemals die dritte zu erreichen, in der die Menschheit es auf sich genommen hätte, sich selbst zu schaffen, indem sie gleichzeitig die Welt schafft.

Die verfälschte Schöpfung

Ist nicht die Umarmung von Mann und Frau, die das Leben im Mutterschoß erzeugt, der eigentliche Schöpfungsakt? Wie sehr mußten sie sich der Liebe und des Lebens schämen, um selbst noch die irdischste Handlung und die fleischlichste Alchimie einem himmlischen und nicht fleischgewordenen Gott zuzuschreiben! Welche Verachtung des Genusses, dem sich die Liebenden hingeben, indem sie sich einander hingeben, welche Geringschätzung des Glücks, bei dem die Körper sich vereinigen, um sich zu befruchten - egal ob aus dieser natürlichen Vereinigung ein Kind geboren wird oder nicht! Hat man jemals eine schönere Huldigung patriarchalischer Männlichkeit gegenüber der hingenommenen Impotenz gesehen?

Aus welch irregeleiteter Vorstellungskraft hat man gefolgert, daß der einzige und wahre Schöpfer des Universums ein Geist gewesen sei, ein Samenkorn des Nichts? Die Notwendigkeit zu arbeiten mußte doch, um einen derartigen Unsinn zu begründen, zunächst die Unfähigkeit zur Schöpfung mit sich bringen, die Macht mußte die Menschen der Lust berauben, selbständig zu sein, und die Expansion der Ware mußte sich an die Stelle der Expansion der menschlichen Natur setzen.

Die Menschlichkeit und die Unmenschlichkeit entstehen nur im Menschen, der sich aus der Erde geschaffen hat und sich im Namen des Himmels zerstört.


Die unterbrochene Evolution

Ihre Männer der Wissenschaft bewundern, daß der menschliche Embryo, zwischen Empfängnis und Geburt, den tausendjährigen Gang, der aus einem im Wasser lebenden Wesen ein auf dem Land lebendes Säugetier gemacht hat, in der verkürzten Spanne von neun Monaten wiederholt. Die weitere Entwicklung sollte ihnen eher Gründe zum Staunen liefern. Wäre es nicht berechtigt gewesen, von einem so großen Sprung, der von der Meeresexistenz zur Eroberung der Erde geführt hat, eine ähnliche Evolution zu erhoffen, bei der die menschliche Spezies sich als ein Hinauswachsen über die tierische durchgesetzt hätte?

Offensichtlich ist unterwegs etwas schiefgegangen. Es hat kein menschliches Wunder gegeben. Die tierische Spezies hat sich nur vervollkommnet und sozialisiert, indem sie die eigene Natur aufgegeben hat. Dank seiner Fähigkeiten bemächtigt sich der Mensch des Universums mit einer Technik, die ihm nicht gehorcht und das Leben überall unfruchtbar macht. Dieses Phänomen war mehr wert als die metaphysischen Verrenkungen, die bemüht sind, sie als die in der Tat einzig mögliche Form der Evolution zu rechtfertigen. Es ist allerdings wahr, daß die Wissenschaftler, die das Leben auf der Erde nach ihrer persönlichen Art zu leben beurteilen, es meistens geringschätzen.


Die unvollendete Geburt

So kommt es, daß das im Schoß wachsende Kind sich in der süßen Welt der Gebärmutter allmählich beengt fühlt. Die schützende Hülle stört es, behindert seine Bewegungen und sein Atmen. Es fängt sozusagen an, mit größerer Energie zum Ausgang zu schwimmen - zur Geburt, zur Autonomie.

Seine Ungeduld ist Last und Hemmnis für den Körper der Mutter, die ihrerseits nun ungeduldig wird, und sich einer unbequem gewordenen Gegenwart entledigen will. Der Ausstoß findet in beiderseitigem Einverständnis statt. Die Mutter entläßt das Kind mit der Gewaltsamkeit eines neuen Lebens in die gewünschte Freiheit. Der Augenblick der Geburt macht Mutter wie Kind frei oder, genauer, leitet für beide einen Prozeß der Emanzipation ein. Die Nabelschnur ist durchgeschnitten, das Band der Abhängigkeit verschwindet, die Gefühlseinheit lockert sich und schöpft aus der Kostenlosigkeit eine ungetrübte Kraft ... eine idyllische Vision.

Ihre Zivilisation trennt den Infusionsschlauch nicht durch, sie dehnt ihn, sie macht ihn hart und spröde unter der beständigen Drohung, Hilfe und Nahrung einzustellen. Sie führt zu einer dramatischen Verwicklung, in der Frau und Kind sich aneinanderklammern und sich ein Leben lang das Stück "Helfer und Hilfsbedürftiger" vorspielen. Sie ziehen sich gegenseitig an und stoßen sich wieder ab, verletzen sich bei jeder Anwandlung von Unabhängigkeit und finden sich wieder in den kränklichen Ausdünstungen der Familie, um die Wunden zu pflegen, die sie sich zufügen.


Die Erziehung als Anpassung an das Überleben

Die Lehrzeit in der Tierwelt beschränkt sich darauf das Gesetz des Überlebens zu respektieren: die Anpassung. Beobachtungen zeigen, mit welchem Eifer ein Weibchen sein Junges schützt, es darauf vorbereitet, in gefährlicher Umgebung voranzukommen, wenn es die Verpuppung verläßt, in der es sich befand. Im mütterlichen Unterricht lernt es, sich zu verstecken, zu springen, einen Unterschlupf zu bauen, einer Spur zu folgen, sein Revier abzugrenzen und sich einen beneidenswerten und vergänglichen Platz unter Sonne und Mond zu erkämpfen.

War es unvernünftig, von der so offen behaupteten Überlegenheit des Menschen über das Tier eine Erziehung zu erwarten, die die einfache Fähigkeit, sich anzupassen, weit hinter sich läßt? Man muß da Abstriche machen, und zwar viele.

Es ist noch nicht lange her, da starben mehr Kinder in einer Familie als Kaninchen in einem Wurf. Auch heute noch sterben sie unter den Schlägen, den Qualen und dem Unglück, den Groll der Erwachsenen bezahlen zu müssen. Diese ungewöhnliche Grausamkeit ist ein schlechtes Vorzeichen für eine Entwicklung über das tierische Verhalten hinaus.

Sind ihre Schulen wirklich etwas anderes als Schulen des Überlebens? Das Kind ist besser ausgerüstet als der Schimpanse, es verfügt über ausgeklügelte Techniken sowie die Mittel sprachlicher Täuschung, aber sein Schicksal ist das gleiche: sich unter Stärkeren und Schwächeren durchsetzen, sich den Gesetzen seiner Umgebung anpassen, seine Haut retten und sich mit einem Nimbus des Ansehens umgeben. Nichts weiter und sogar oft weniger, da ihm die natürliche Freiheit verwehrt ist, seine Triebe zu befriedigen.


Nur der wird Mensch, der aufhört, es zu sein

Grausam genug veranschaulichen Märchen und Legenden das Schicksal, das den Kindern vorbehalten ist. Dort treten naive, großzügige, schwache und intelligente Wesen mächtigen, furchteinflößenden, bösartigen und dummen Riesen gegenüber. Am Ende gnadenloser Kämpfe siegen die Schwachen über die Starken. David schlägt Goliath den Kopf ab und trennt vom muskulösen Körper des Grobians einen jener Zyklopenköpfe, die mit der Verwaltung von Stadt und Land beauftragt sind.

In der Zwischenzeit wurden die Kleinen durch Prüfungen abgehärtet; sie haben gelernt, ihren Gegnern gegenüber die gleiche Roheit an den Tag zu legen und obendrein eine Unbarmherzigkeit, so heimtückisch, arglistig und verschlagen wie die des Dieners, der seinen Herrn betrügt. Sie können sich nun ihrerseits in den Rang eines Königs, eines Riesen, eines Erwachsenen erheben. Der Pfad im sozialen Dschungel hat sie vom Stand eines Ausgebeuteten zum Status des Ausbeuters geführt.

Wie lautet die Moral der Geschichte? Nicht derjenige ist der Stärkste, den alle Welt dafür hält, sondern derjenige, der denkt; nicht die brutale Gewalt, sondern die Kunst, sie beherrscht anzuwenden.

Die Kleinen triumphieren durch den Geist und der Geist läßt sich bezahlen, indem sie erst groß, dann alt, dann bitter und allmählich den Ungeheuern gleich werden, die sie besiegt haben. Verändert hat sich nur der Stein, der, in den Teich geworfen, dort dieselben konzentrischen Kreise bildet.

Was den Gefühlsreichtum des Helden betrifft, so läßt er sich in der stereotypen Schlußformel zusammenfassen: "Sie lebten glücklich und hatten viele Kinder." Genausogut könnte man ihn ins Nirgendwo, nach Utopia verpflanzen, dahin, wo es keine Geschichte mehr gibt. So, als ob das Glück, um sich zu behaupten und Früchte zu tragen, nur auf den Kontinenten märchenhafter Unwirklichkeit herrschte, die man nur tot erreicht oder zu erschöpft, um noch etwas hervorbringen zu können, was immer es sein mag.


Gefühl und Nahrung

Das Kind ist bis auf den heutigen Tag entgegen der von ihm selbst angekündigten Entwicklung behandelt worden. Schon im Bauch der Mutter empfängt es - im Frequenzbereich der ersten Sinneseindrücke - wie in einem Tal jeden Widerhall des Sturms, der innerhalb des Elternpaares aus der Schwierigkeit zu lieben und sich zu lieben entsteht. Angst, Freude, Furcht, Ärger, Gleichgültigkeit, Anwandlungen von Liebe und Haß modulieren einen biologischen Rhythmus auf der physiologischen Tastatur des Embryos, der sehr wohl über seine endgültige Implantation oder über seinen vorzeitigen Ausstoß entscheidend sein kann.

Wenn es der Gefahr einer Fehlgeburt entronnen ist, die so häufig eine absichtliche Abtreibung ersetzt, so deshalb, weil sich zwischen Mutter und Kind eine Übereinkunft behauptet, eine Übereinstimmung, zu deren Entdeckung die Wissenschaft inzwischen endlich gelangt ist, nachdem sie alles über den Tod studiert hat. Man hat sich bis jetzt gehütet zu betonen, wie wichtig für das Kind in utero die Tatsache ist, daß es gleichzeitig und kostenlos Nahrung, Liebe und jene geistige und sinnliche Botschaft empfängt, die Heiterkeit und Vertrauen übermittelt. Dies ist ein Vorrecht, das durch die Geburt nicht abgeschafft wird, da die mütterliche Brust ja weiter und unter zärtlichem Singsang die Kraft der Milch und die Süße der Zuneigung spendet.

Dieses irdische Himmelsbrot, dieses kosende Murmeln, dieses geschlechtliche Fluidum, dieses sozusagen hautnahe Denken ist der wahre Jungbrunnen, die Quelle, die das Leben des kleinen Kindes kräftigt, viel sicherer als das Arsenal der ausgeklügeltesten Medizin. Die Liebespaare wissen das, da sie auf dem Höhepunkt ihrer Leidenschaft auch aus ihr schöpfen und wieder wie kleine Kinder werden.

Nun aber kommt der Bruch.

Durch ein Unglück, das viele andere erzeugt, ist ihre Zivilisation so eingerichtet, daß Gefühl und Nahrung und gleichzeitig die ursprüngliche Sprache, die deren Einheit stärkte, getrennt werden.

Eigentlich hätte das Gegenteil überrascht. Es ist undenkbar, daß eine Gesellschaft, deren Bestehen auf der warenerzeugenden Arbeit gründet, der Liebe, die mit natürlicher Hingabe geschenkt wird, das gleiche Interesse entgegenbringt wie der Notwendigkeit, sich Nahrung zu beschaffen, wodurch der Preis für Korn und Menschen festgelegt wird.

Die Zuneigung wird ungekünstelt gegeben - das kann doch nicht ernst gemeint sein. Besteht nicht der Ernst des Erwachsenenalters gerade darin, die Kostenlosigkeit zu beseitigen, um den Profit zu vermehren und alles ins Fahrwasser dessen zu bringen, was bezahlt werden muß, angefangen mit dem Bedürfnis nach Nahrung, Wohnung, Liebe, Freiheit der Bewegung und des Ausdrucks?

So muß man auch zur Kenntnis nehmen, wie in wenigen Jahren die Gefühlssprache von Mutter und Kind der Sprache der Leistung, des Ertrags und der Ökonomie weicht - einer Sprache, die, fest strukturiert nach der aristotelischen Logik des "Mache dies, mache das nicht", im Gegensatz zur ersten perfekt zu den pädagogischen Anforderungen des Computers paßt.


Zuneigung, Nahrung, Schöpfung

Die Fähigkeit zur Schöpfung ist das spezifisch menschliche Phänomen. Sie bildet sich mit dem Körper, der vom fötalen Lebensraum im Überfluß ernährt wird. Sie gibt dem Neugeborenen die Macht, sich zu entwickeln, indem es seine Umwelt verwandelt und, genau genommen, den ursprünglichen Überfluß durch die Schaffung einer Erde des Überflusses bereichert, auf der das Kind lernen kann, seine Autonomie als vollwertiger Mensch zu erlangen.

Die schöpferische Anlage hat an einer natürlichen Entwicklung teil, die von der Zivilisation der Arbeit denaturiert wurde. Leben und Schöpfung sind untrennbar. Beide werden vom Ausbeutungssystem der Natur und der menschlichen Natur, das der ökonomischen Ära ihre Grundlage gibt, zurückgedrängt und aufgebraucht.

Das erzieherische Fallbeil hat den Gefühlsgenuß von der Befriedigung der primären Bedürfnisse getrennt. Das körperliche Miteinander von Frau und Kind hat eine Beziehung, in der die herrschende Liebe die Kunst lehrte, sich selbst und damit die eigene Unabhängigkeit zu schaffen, nicht weiter vorangetrieben. Die Verbindung ist unterbrochen worden, die Alchimie hat plötzlich ausgesetzt, die dritte Verwandlung hat nicht stattgefunden. Als

Amme dient nicht mehr das Leben, sondern der Tod. Das Schicksal spult sich wie ein Film ab, der rückwärts läuft. So sieht der gewöhnliche Alptraum aus, aus dem sie nur noch in seltenen Augenblicken des Lebens erstaunt erwachen.


Wie kann das menschliche Wesen entstehen, wenn das Kind im Erwachsenen und der Erwachsene im Kind zum Fötus gemacht werden?

Die auf immer unvollendet gebliebene Kindheit

Es ist ein schrecklicher Fluch, mit der Berufung zum Glück eine Welt zu betreten, in der das Glück an den Ausgang verbannt ist. Das Wort selbst steht im Geruch der Albernheit, es läßt uns aus Verbitterung den Kopf schütteln, den wir meistens aus Bedauern hängenlassen.

Denn wenn sie auch zu allen Zeiten ausposaunt haben, daß der Mensch nicht auf der Welt sei, um sich der Wollust hinzugeben, so haben sie sich doch in ihrem Herzen und in ihrer Vorstellung die Erinnerung an das Paradies des Fötus bewahrt, an das Eden im Mutterleib, an die Insel des Glücks, auf der das entstehende Leben durch das Geschenk der Liebe genährt wurde.

Wie oft machen sie sich nicht stolzen Schrittes auf, Reichtum und Macht zu erobern, um dann sogleich, beim geringsten Gefühl von Schwäche und Verlassenheit, zusammenzubrechen und sich im ersten simulierten Mutterschoß zusammenzukrümmen, den der Zufall ihrer Verwirrung bietet.

Je ausdauernder und entschiedener sie versuchen, das in den Griff zu bekommen, was sie von sich selbst entfernt, desto leichter trippeln sie kindisch zu dem ursprünglichen Zustand zurück, in dem sie gehätschelt und geschützt waren. So hört ihr Leben nicht auf, höhnisch und langweilig das Trauma der Kindheit und der Geschichte zu erneuern, das sie aus den ursprünglichen Genüssen vertrieben hat, um sie zur täglichen Schinderei zu schicken. Einige Jahre, vielleicht einige Monate später sieht sich das Kind der Vorrechte beraubt, die ihm die Liebe rückhaltlos gewährte. Daß ihm das mühelose Leben, dessen es sich im Bauch der Mutter erfreute, entzogen wird, darin liegt nicht das Übel, ganz im Gegenteil. Es tritt in das irdische Leben ein, in ein menschliches

Abenteuer, das es einlädt, die Passivität aufzugeben und einen natürlichen Überfluß zu schaffen, von dem die fötale Welt nur ein Vorgeschmack und eine ungefähre Andeutung war.

Das Unglück liegt darin, daß das Kind, kaum dem Schutz des Uterus entkommen, der mit der Zeit unpassend und hinderlich geworden war, sich an so ungünstigen Bedingungen stößt, daß alles es auffordert, sich zurückzubilden, die Hoffnung auf eine menschliche Verwandlung aufzugeben und sich mit Sack und Pack in eine fötale Lage zurückzuziehen.

Die Trennung von Gefühl und Nahrung erzeugt bei dem leicht zu beeindruckenden Neugeborenen eine Empfindung von Unsicherheit und Angst, und zwar in dem Augenblick, in dem nichts förderlicher wäre, als mit der Wegzehrung einer rückhaltlosen Liebe in eine fremde Welt zu treten.

Es wird jetzt von einer Bedrohung gelähmt, während seine schwächlichen Bewegungen es doch sehr nötig hätten, sicher zu werden: von der Bedrohung, nicht mehr geliebt zu werden, wenn es nicht ißt, wenn es schlecht schläft, wenn es schreit, wenn es unruhig, entnervend, ungehorsam ist und einem Rhythmus folgt, der von der rentabel eingerichteten Zeit der Erwachsenen abweicht. Welche Verachtung liegt in der fortdauernden Ignoranz, das besondere Universum des Kindes wie ein erobertes Gebiet zu umstellen! Welche Verachtung sich selbst gegenüber!

Ist es nicht gerade die Liebe, die die Kühnheit stärkt, dem Unbekannten die Stirn zu bieten, nicht in der Anstrengung nachzulassen, sich in eine wilde Folge von Unternehmungen zu stürzen: die Brust finden, das Fläschchen ergreifen, sich eines Stuhls bemächtigen, sich aufrichten, gehen, Wörter artikulieren, die glücklichen natürlichen Anlagen im Umgang mit Lebewesen und Dingen schärfen?

Die Erziehung verwandelt sich in eine eisige Mechanik, sobald sie nicht mehr auf der Voraussetzung beruht, dem Kind eine uneingeschränkte Zuneigung zu gewähren, was immer auch geschehen mag. Wie soll man aber die Vorherrschaft der Liebe sichern, wo doch die Arbeit dem Kreislauf von Tag und Nacht ihr präzises Räderwerk aufzwingt?

Zweifellos besteht in der Familie nicht länger der Brauch, die Berufung zum Pianisten mit Schlägen auf die Finger zu fördern. Aber wenn auch Ohrfeigen und Gebrüll nicht mehr üblich sind, so ist es doch nicht so einfach, die Erpressung durch das Gefühl zu vermeiden, das die geglücktesten Gesten der Unabhängigkeit und der Autonomie lähmt.

Die Gewißheit, geliebt zu werden, regt am sichersten dazu an, sich selbst in der entgegengebrachten Liebe zu lieben. Sie ist die grundlegende Sicherheit, die dem Kind erlaubt, mit eigenen Flügeln zu fliegen. Ohne sie schleppt sich das Schicksal in den eingefahrenen Bahnen einer Abhängigkeit dahin, die dem Tod die Züge eines allmächtigen Vaters verleiht.

Man braucht die Zuneigung nur dem Gesetz von Angebot und Nachfrage zu unterwerfen, und schon kommt die Gewißheit ins Schwanken, entleeren sich Herz und Körper und füllt sich die Leere mit einer krankhaften Verstrickung aus wirklichen Ängsten und künstlichen Beschwichtigungen.

Von nun an werden die Ungeschicklichkeiten des Kindes absichtlich. Die ursprünglich mit den Verirrungen der Unerfahrenheit verbundenen Stürze, Unfälle und Krankheiten werden zu Angstschreien mangelnder Liebe; sie fordern Hilfe und Schutz der Mutter, der sie so mit einer anderen Erpressung antworten. Die brutale Mahnung an die Pflicht zu lieben und Hilfe zu leisten, erzeugt in ihr das Schuldgefühl, versagt zu haben. Hier fängt der Todeskampf des Lebens an, wenn der Fehltritt des Kindes seine zufallsbedingte Natur und den Charakter eines fruchtlosen Versuchs verliert, um sich in einen Reflex absichtlicher Schwäche zu verwandeln, in eine Vortäuschung des Todes und, durch eine schrittweise Übertreibung, in eine selbstmörderische Reaktion, in der man sich negiert, um das Interesse der anderen zu wecken.


Die ökonomisierte Zuneigung

Das Feilschen mit Gefühlen träufelt eine stete Angst ins Herz des Kindes. Die Erinnerung an das "Ich höre auf, dich zu lieben, wenn ..." läßt das spontane Aufflackern des Genusses ersticken. Jedesmal, wenn es sich selbständig auf ein Begehren einläßt, straft die Wunde eines möglichen Liebesentzugs seine Anwandlungen von Selbständigkeit und brennt ihm das Gesetz der Unterwerfung und des Verzichts ein, das die Welt der Erwachsenen regiert.

Ich behaupte nicht, daß es angemessen ist, das Kind der chaotischen Freiheit seiner Triebe zu überlassen. Unter den vielen tastenden Erfahrungen, die es macht, gibt es einige, die Gefahren darstellen, eine Berichtigung verlangen oder Hilfe verdienen. Aber es ist sicher, daß die affektive Kommunikation die Geduld und die Wirksamkeit besitzen, dem Kind zu erklären, warum es gilt, bestimmte Handlungen zu vermeiden. Brutale Befehle und Anfälle von Angst beleuchten hingegen die Gefahr mit einer kränklichen Faszination und bewirken eher ihre Wiederkehr als ihre Beseitigung.

Durch die Angst wird man in einen Zustand der Scham und der Schwäche getaucht, der dann durch eine hochmütige, künstliche Härte beschworen, aber nicht besiegt wird. Der Muskelpanzer läßt den innerlich empfundenen Schrecken nach außen prallen und errichtet dadurch eine leere Festung, die überall die Schatten der Macht und des Todes verbreitet.

Ist nicht der Rückzug in einen von der Angst verriegelten Körper, aus dem sie in Abständen wie Tollwütige hervorbrechen, um Furcht zu verbreiten, die Karikatur des Mutterschoßes und der Geburt - aber eines sterilen, ausgetrockneten, verhärteten, feindlichen Schoßes und einer umgekehrt verlaufenden Geburt, die Zerfall, Zerstörung und das Nichts hervorbringt?

In offensichtlicher Analogie dazu ist er auch der Schutzwall, den sie um ihr Dorf, ihre Stadt, ihr Besitztum, ihre Familie, ihren Staat errichten.

Eine Gesellschaft, die den Reichtum der Gefühle dem Prinzip der Ökonomie unterwirft, läßt das Kind im Erwachsenen vorzeitig alt werden und macht aus dem Erwachsenen ein Kind, das niemals zu seiner menschlichen Bestimmung kommen wird.

Gibt es eine einzige Macht, eine einzige autoritäre Instanz, die nicht mit großsprecherischem Ernst das erprobte Manöver der Erpressung durch Gefühle reproduziert? Ist die Intelligenz der Richter, der Polizisten, der höheren Ränge etwas anderes als die gekonnte Handhabung von Belohnung und Strafe? Und ganz am Ende drückt sich das Wesen des Unglücklichen, der vor ihnen steht, in straffälligen Wahrheiten aus! Sie begnügen sich nicht damit, ihn einen Angeklagten, Verdächtigen, Schuldigen oder Unfähigen zu nennen, sie entziehen ihm auch ihren Segen, ihr Vertrauen, ihren Schutz und ihre Achtung. Die Obhut der Familie, deren er unwürdig geworden ist, wird ihm genommen, er wird auf eine Ebene totaler Unfähigkeit hinabgedrückt und weiter in seine kindische Ausweglosigkeit gestoßen.

Wer am meisten Angst hat, bellt zuerst: Anmaßung und Achtbarkeit der Honoratioren stinken immer noch nach den Schrecken ihrer Kindheit, in die sie ein für allemal die tägliche Furcht gestürzt hat, verdächtigt, gerichtet, verurteilt und herabgesetzt zu werden.

Ihre in Hochmut gekleidete Knechtschaft trägt das Zeichen einer Gefühlskastration. Aus dem Garten Eden vertrieben, um im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten, schaffen sie sich eine höllische Gegenwart, um den Preis für das verlorene Paradies zu zahlen. Sie schreiten voran in einer Welt von Hinkenden und besitzen nur das traurige Talent, Krücken zu erfinden - dabei sind es Stützen, durch die sie nur weiter verstümmelt werden.


Die menschliche Zivilisation scheitert, sobald die Warenzivilisation entsteht


DIE GESCHICHTE ALS GEBROCHENE ENTWICKLUNG

Es ist viel Bitterkeit und Zynismus nötig, um eine durch drei Pyramiden, zehn Kathedralen, "Die Zauberflöte", die Filmkunst, den Kühlschrank und die Organverpflanzung verzierte Folge von Kriegen, Völkermorden und Metzeleien als "Geschichte der Menschheit" gelten zu lassen. Das, was sie für den gesunden Menschenverstand halten, besteht also darin, den Millionen geopferter Existenzen weniger Wert beizumessen als der einen oder anderen Medaille, deren Kehrseite sie sind.

Wie kann man aber weiterhin verkünden, der Fortschritt brauche Menschenopfer, das Genie Schicksalsschläge, das Erdöl Blut und der Monatslohn seine tägliche Unze frischen Fleisches, während ihre moralischen und finanziellen Werte stürzen, ihre patriarchalische Autorität in den Staub getreten wird und ein Todeshauch die Wälder, die Ozeane, die Getreidefelder und sogar die Luft verseucht, die sie einatmen?

Ihr Himmel ist leer, ihr Glaube versiegt, ihr Stolz zerrinnt in Tränen, ihre Zivilisation liegt in Scherben. Dennoch knien sie aus gewohnter Trägheit und ohne Glauben weiter, verherrlichen das Unglück, peinigen das Verlangen unter dem Druck der Arbeit und sparen sich selbst für eine öde Zukunft auf.

Etwas hat, während sie zur Eroberung der Erde ansetzten, sie und ihren Lebensraum erobert und sie mitten in einer allumfassenden Verderbtheit verdorben zurückgelassen.

Sie haben sowohl den Namen als auch den Begriff Gottes, der Natur und der Fatalität entleert, die so lange Symbole ihres Heils und ihrer Verdammnis gewesen sind. Wie ich schon sagte: Um ein Geschick zu erklären, das den eigenen Hoffnungen so stark widerspricht, bleibt ihnen nur noch übrig, sich auf die ökonomische Notwendigkeit als ultima ratio zu berufen. So schließt sich am Anfangs- und Endpunkt der Kreis einer verderbten Zivilisation, deren Entstehung und Verfall gleichzeitig von der Ökonomie besiegelt wurde.

So wie das Kind im Erwachsenen scheitert, versandet das Versprechen einer menschlichen Entwicklung: Es erstickt in einer Geschichte des Handels, in der die Menschen einen Reichtum an Macht und Profit produzieren, der sie entmenschlicht.

Es bestürzt sie, aus den anderen wie aus sich selbst nur die letzten Heller des Prestiges und der Rentabilität herauszuholen, so daß sie auf ihrer Kindheit und ihrer Geschichte sitzen bleiben. Die Frage ist, ob sie sich zusammen mit der Geschichte, die sie von sich selbst löst, auslöschen werden, oder ob sie sich eine neue Kindheit erfinden, um sich neu zu erschaffen.


Sie haben die Reichtümer ausgeplündert, welche die Natur ihnen kostenlos bot, und dadurch die Erde zum Profit des Himmels arm gemacht

Der Ursprung der Warenzivilisation

Keiner hat sich bisher um den bewußten Betrug gekümmert, der als einzig mögliche Form menschlicher Zivilisation diejenige gelten läßt, die auf Ackerbau und Handel beruht. Die Vielfalt ihrer Mythen macht jedoch kein Geheimnis aus einer grundsätzlichen Dissonanz, deren schriller Klang die Symphonie des Lobes stört. Reden sie nicht einstimmig von einer frühen Zeit der Welt, deren Niedergang ihre eigene Zeit veranschaulicht? Weisen sie nicht zu Beginn ihrer Ära auf einen Fall, auf einen Verfall, auf das Mißgeschick eines Paares hin, das aus dem Paradies des Genusses vertrieben und dazu verurteilt wurde, unter Schmerzen ein zum Fluch der Arbeit verdammtes Geschlecht zu gebären? Nachdem sie eine Zivilisation erfunden hatten, in der es sich nicht gut leben ließ, stellten sie skrupellos als wahr hin, es habe vor ihr keine andere Form menschlichen Lebens außer in der unsicheren legendären Überlieferung gegeben.

Als die Entdeckung wilder Völker - d.h. der Völker, die weder über Feuerwaffen noch über Banken verfügten - sie mit ihrer eigenen Vergangenheit und der Neugier, diese zu erforschen, konfrontiert hatte, stellten sie sich die "Präadamiten" als Grobiane vor, die sich unter Gegrunze in ihren Höhlen gesuhlt und vollgefressen und sich von den Tieren nur durch die Kunst unterschieden haben, diese mit Hilfe des Wurfspießes zu töten.

Wann begannen sie zu ahnen, daß die paläolithischen Zivilisationen sich nach Formen gesellschaftlicher Organisation einrichteten, die sich radikal von denen der Warengesellschaften unterschieden? Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als sie die spezifische Eigenart des Kindes und die Kostenlosigkeit der natürlichen oder "sanften" Energien entdeckten.


Die neolithische Revolution

Das, was "neolithische Revolution" genannt worden ist, kennzeichnet den Übergang von den nomadisierenden Sammlern und Jägern zu einer seßhaften Bauerngesellschaft. Auf eine Form der Subsistenz, in Symbiose mit der Natur, folgt ein System gesellschaftlicher Beziehungen, die durch die Aneignung eines Gebietes, das Bebauen des Bodens und den Austausch der Produkte oder Waren bestimmt werden.

Weitere Forschungen haben die affenähnliche Abbildung korrigiert, die bei der Darstellung des vorgeschichtlichen Menschen üblich war. Erlischt das Rampenlicht, so erhellen sich die Kulissen. Die Zivilisation der Ökonomie mußte bis zum letzten Wellenschlag des Bankrotts und der Ohnmacht gelangen, damit endlich die Meinung revidiert wurde, die umherschweifenden Gemeinschaften des Paläolithikums seien die Rohfassung, wo in einer Art kindlicher Entwicklungsphase der Menschheit das Zeitalter des Ackerbaus, des Handels und der Industrie entworfen wurde - sozusagen die neolithische Modernität.


Die Vorrangstellung der Frau

Ist es ein Zeichen äußerster Anmaßung, Vermutungen über die Existenz von Zivilisationen zwischen 35.000 und 15.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung anzustellen, in denen Wesen auf der Suche nach einer menschlichen Bestimmung versucht haben, sich vom Tierreich zu emanzipieren sowie von Kräfteverhältnissen, die im Kielwasser des Raubs Furcht verbreiteten?

Die Untersuchungen gewisser Stätten geben zu der Vermutung Anlaß, daß Männer und Frauen nicht innerhalb einer hierarchischen Beziehung zusammengelebt haben, sondern in voneinander getrennten und sich ergänzenden Gruppen. Der Mann widmet sich der Jagd oder dem Fischfang, während die Frau die eßbaren Pflanzen sammelt. Nicht etwa ihrer wesensgemäßen Schwäche wegen - wie das Patriarchat es nahelegen wollte - bleibt es ihr erspart, das Wild zu töten, sondern wegen einer analogischen Unvereinbarkeit: Ihr Menstrualblut gehört einem Fruchtbarkeitszyklus an und hört auf zu fließen, um das Leben vorzubereiten. Das Blut des Tieres oder des verwundeten Jägers hingegen ist das Vorzeichen des Todes.

"Alles ist Weib, was man liebt." In jeder Epoche korrespondiert das im Vorrecht der Liebe erneuerte Weibliche - nicht die vermännlichte oder zur Fortpflanzung bestimmte Frau als Objekt - mit einer Gunst, die dem Menschlichen von einer Zivilisation gewährt wird, die mit Gunstbeweisen kaum freigebig umgeht.

Ist nicht die Quelle des allgemeinen Verrufs, in dem die Frau steht, sowie des Wiederauflebens ihrer Macht in dem ursprünglichen Zusammenstoß zweier Welten zu finden? Die eine ist mit Zeichen weiblicher Allgegenwart übersät, die andere verbreitet, von ihrer bäuerlichen Wurzel bis zu ihrem industriellen und bürokratischen Auswuchs, die erigierende Aggressivität ihrer Menhire, ihrer Bergfriede, ihrer Dome und Stahlbetontürme.


Die ursprüngliche Symbiose

Die Geschichte beginnt in der Jungsteinzeit. Es ist die Geschichte der Ware und der Menschen, die ihr Menschsein leugnen, indem sie die Waren produzieren. Es ist die Geschichte der Trennung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, zwischen dem Einzelnen und sich selbst.

Diesseits und jenseits der Geschichte liegen Gegenden, in die nur Hypothesen vordringen; es ist aber zumindest offensichtlich, daß dort weder die Ökonomie den Vorrang hat und herrscht noch jene besondere Ausstrahlung, der sie die Meinungen, die Sitten und die Verhaltensweisen unterwirft.

Die Sammlerkulturen haben sich nicht durch die Ausbeutung der Natur entwickelt, sondern in einer Symbiose mit ihr, die derjenigen des Kindes im Mutterleib ziemlich ähnlich ist. Sie spalten sich nicht in antagonistische Klassen auf, ihre Entwicklung bleibt wesentlich naturgemäß und läßt nicht von einer Einheit ab, in der die Grundkomponenten des Lebens - die mineralische, die pflanzliche, die tierische und die menschliche - sich in einem beständigen Werden erhalten und verwandeln.

Wenn die Felsmalerei der Altsteinzeit gern Zwitterwesen, halb Tier halb Mensch, darstellt, bringt sie damit nicht ein Gefühl der Verschmelzung zum Ausdruck - eine "religio" im ursprünglichen Sinn des Wortes: das die unterschiedlichen und untrennbaren Elemente des Lebenden Verbindende, einem Sinn, dessen absolute Umkehrung die Religion ist?

Im Grunde strebt die Menschheit danach, sich von den verschiedenen Reichen, aus denen sie hervorgegangen ist, zu emanzipieren - ohne Bruch, ohne Trennung, ohne Ablehnung. Ihre in Stetigkeit und Sprüngen verlaufende Entwicklung fordert ein Übersichselbsthinauswachsen zu einer neuen, selbständigen Spezies, die sich ihrer Vielfältigkeit und ihrer einheitlichen Übereinstimmung mit dem Lebenden bewußt ist.

Deuten nicht die gynäko-phallischen Figürchen, die in einer egalitären Paarung das Kopf bei Fuß liegende Weibliche und Männliche vereinigen, auf eine symbiotische Bewußtseinsform hin, durch die eine Gesellschaft zugleich Treue und Überlegenheit gegenüber ihrer ursprünglichen Animalität behauptet?

Ist es eine aus der Luft gegriffene Vermutung, in den vorökonomischen Kulturen die Realität einer Kommunikation zu ahnen, die sich zwischen den Lebewesen, den Dingen und den Naturerscheinungen weniger gemäß einem intellektuellen Prozeß als vielmehr durch ein analogisches Erfassen herstellt, durch eine globale Intelligenz, die immer noch an ihren sensorischen und sinnlichen Wurzeln haftet?

In der Vergangenheit entdeckt man niemals etwas anderes als Bedeutungen, die von der Gegenwart getragen werden und im Herzen einer individuellen Geschichte reif geworden sind. Es ist meines Erachtens kein Zufall, wenn am Ende einer Zivilisation, die diese Bedeutungen herabgewürdigt und mit Verboten überhäuft hat, neue Bündnisse zwischen dem Mann, der Frau, dem Kind, dem Tier, den Pflanzen, den Zellen und den Kristallen zutagetreten.

Die Möglichkeit, sich wirksam an das Kind im Mutterleib sowie an das ein paar Tage alte Baby, an ein wildes Tier oder an eine Pflanze zu wenden, ist eine experimentelle Wirklichkeit, die auf die Fortdauer einer natürlichen Kommunikation im residualen Instand aufmerksam macht. Während die sogenannten Primitiven diese Kommunikation praktizierten, wurde sie durch die rationalistische Verachtung, das gebieterische Wort, die lukrative Verkürzung, den Militär- und Telegrammstil der Geschäfte, die ökonomisierte Sprache verdunkelt.


Der Mensch der Natur und der Mensch der Ökonomie

Alles läßt vermuten, daß ein Mensch, der naturgemäß lebt und keine anderen Grenzen als die seines Umherschweifens kennt, sich keineswegs wie ein Ackerbauer verhält, der in einen Produzenten materieller und geistiger Reichtümer verwandelt wurde, dazu verdammt, diesseits des Grenzsteins eines Feldes, eines Dorfes, einer Stadt, eines Staates zu bleiben.

Der Sammler von Pflanzen und Wild, der kostenlos über natürliche Vorräte verfügte - nicht mit der Absicht eines einkalkulierten Profits, sondern um des eigenen Genusses willen -, hatte ohne Zweifel, was seine Sitten, seine Mentalität und sogar seine psychosomatische Textur betraf, nur wenig gemeinsame Züge mit dem Bauern, der ein Stück Land bestellte, das ihm gegenüber so feindselig war wie diejenigen, die aus diesem Stück Land ihre Einkünfte und ihre Eigentumstitel bezogen. Aber aus diesem produzierenden, ausbeutenden und ausgebeuteten Bauern haben sie das Wesen des Menschen abstrahiert, so weitgehend, daß sie - La Boëtie, Hölderlin und Fourier ausgenommen - bei größter Freiheit der Phantasie in ihren Utopien, dichterischen Werken, Fiktionen und schimärischen Wissenschaften niemals eine Gesellschaft entworfen haben, die nicht an Krieg, Geld oder Macht gekettet war.


Die natürliche Kostenlosigkeit

Die Sammler und Jäger sind die Kinder der Erde. Sie durchstreifen sie und sammeln überall das, was sie ihnen anbietet. Sie sind keine Eroberer, die sie ausplündern, um dann in den Wüsten umzukommen, die ihre Habgier entstehen läßt. Kein Herr, kein Priester, kein Krieger erhebt sich unter ihnen, um sich die gesammelten Güter anzueignen.

Aus dem irdischen Manna ergibt sich eine unmittelbare Befriedigung bei Nahrung, Kleidung, Wohnung und Technik. Sie wird weder durch das Geld, den Tausch, noch durch die Tyrannei eines Chefs erreicht, sondern ihre unveränderte Gegenwart bestimmt analogisch einen Stil der gemeinschaftlichen Beziehungen, eine Wesensart, eine zugleich rationale und emotionale Sprache und eine Fülle eingeritzter und in Stein gehauener Zeichen, die allein die Manie, all das den Göttern zuzuschreiben, was den Menschen gehört, als religiös bezeichnen konnte.


Die Religion entsteht mit dem Stadtstaat

So wie das Kind für sie lange Zeit nur der Entwurf des Erwachsenen gewesen ist, haben sie eine Periode der menschlichen Entwicklung - ungefähr vierzig- bis fünfzigtausend Jahre - "Paläolithikum" oder Altsteinzeit genannt und ihr keine andere Eigenschaft zugebilligt, als die Menschheit zur modernen Epoche der Jungsteinzeit oder des "Neolithikums" zu führen. Dabei sprechen sie von einer paläolithischen Religion so, als ob es einen der menschlichen Natur innewohnenden Glauben an die himmlischen Gespenster gebe, der fortschreiten müsse, bis er sich eines Tages zur christlichen, mohammedanischen, buddhistischen oder jüdischen Vollkommenheit emporgearbeitet habe.

Das hieße, frei lebende Nomaden mit den Sklaven eines Stückchen Landes zu verwechseln, die in der geistigen Tyrannei des Himmels einen Trost für die materielle Tyrannei ihrer Mitmenschen suchten. Ist denn nicht das Königs- und Priestergesindel aus dem durch die "neolithische Revolution" eingeführten Ackerbau und Handel entstanden? Wird nicht von dieser Zeit an die ihrer fleischlichen Substanz beraubte Erde zu einer Muttergottheit sublimiert, die Uranus, der männlich-fruchtbare Herr des Himmels, durch die Arbeit der Menschen vergewaltigt und besamt?

Es gibt, genau genommen, keine Religion vor der neolithischen Revolution, wohl aber im ursprünglichen Sinne des Wortes eine einheitliche Beziehung zwischen allen Erscheinungen des Lebens, ein allgegenwärtiges analogisches Verständnis, eine Identität von Mikro- und Makrokosmos, dessen, was oben und unten, was innerlich und äußerlich ist.

Die Trennung von sich selbst und von den anderen hat das Denken und das Lebende noch nicht in eine kränkliche Dualität zerrissen. Das Kind hat keinen anderen Himmel als den mütterlichen Bauch, der natürliche Mensch kennt keine andere Wirklichkeit als die Natur. Die Hörner der großen Färse in Lascaux stellen die verschiedenen Mondphasen dar. Sie weisen darauf hin, daß die Erde die Bewegung des Himmels genauso liebevoll trägt, wie sie den Rhythmus der Jahreszeiten in den Schlaf wiegt.

Warum sollte man den umherschweifenden Stämmen des Paläolithikums das Bewußtsein über eine lebendige und fruchtbare Erde absprechen, wo das Abenteuer eines individuellen Schicksals, das jeden Tag erneuert wird, sich von der Geburt bis zum Tod Bahn bricht? Entdecken nicht heute die Erben des Neolithikums jenseits einer Geschichte, die weniger ihre eigene als die ihrer Entfremdung war, das ständige Verlangen, hier, jetzt und für immer im Schoß einer endlich wiederhergestellten Natur zu leben, in der das Menschliche und das Irdische nicht getrennt sind?


Der Garten Eden im Herzen

Habe ich die durch die Gasfackeln der Industriegesellschaft zur Finsternis verurteilten Zeitalter mit Farben versehen, die zu idyllisch sind, um wahr zu sein? Ich bin es doch nicht, der sie mit Namen wie Garten Eden, Goldenes Zeitalter oder Schlaraffenland gepriesen und wie Stätten geschildert hat, wo Überfluß, Kostenlosigkeit und Harmonie zwischen Mensch und Tier herrschten. Verantwortlich für eine derart paradiesische Vorstellung sind die Menschen der Ökonomie, diejenigen, die sich mit hochmütigem Tonfall ihrer Arbeit, ihrer Religion, ihrer Familie, ihres Staates, ihres Geldes und ihres technischen Fortschritts rühmen.


Die Warenzivilisation sorgt nicht dafür, daß die Menschheit über die Animalität hinauswächst; sie sorgt nur für deren Sozialisation, indem sie sie unterdrückt und einen Preis für ihre Abreaktionen festsetzt.

Die Notwendigkeit, über die Animalität hinauszuwachsen

Es spricht alles dafür, daß sich unter den umherschweifenden Stämmen des Paläolithikums die Verhaltensweisen der in Herden und Horden lebenden Tiere in verschiedenem Maße erhalten haben. Aurignac, La Madeleine und Pech-Merle sind keine irdischen Paradiese gewesen, sondern Felder einer bald rückschreitenden, bald fortschreitenden Evolution auf dem Wege einer menschlichen Entwicklung. Manche Gruppen gehorchen noch der atavistischen Brutalität des Beutefängers, andere entdecken aufgrund der Verfeinerung der elementaren Bedürfnisse neue Formen des Zusammenschlusses.

Die Trägheit wirkt zugunsten der Animalität. Wir wollen es zugeben: Das Bestreiten des Lebensunterhalts durch Sammeln, Jagd und Fischfang gehört eher zur Anpassungsfähigkeit des Tieres als zur Fähigkeit, die Umwelt zu verändern. Das Nomadentum setzt seiner Freiheit selber Grenzen: Die saisonbedingten Bewegungen der Herden regeln das Ballett des Umherschweifens und zwingen die Jäger, ihren Routen zu folgen, um sich mit Wild zu versorgen. Die Keimungszeiten, die Vielfalt der Böden, auf denen eßbare Pflanzen wachsen, und das Reifen der Früchte bestimmen ihrerseits den Wechsel der Lagerplätze.

Man füge die Launen des Klimas hinzu, die Unbilden der Witterung, Blitz, plötzliches Hochwasser, Krankheit, Unfall und Tod: So viele Unglücksfälle, die in einer grausamen Bestimmung liegen, die mehr darauf gefaßt zu sein scheint, das natürliche Mißgeschick zu erdulden, als entschlossen, es durch Können und Wissen zu meistern, seine Wirkungen zu mildern oder sogar aus den Nachteilen Vorteile zu machen.

Aber was! Haben sich die Agenten der Ökonomie, die Fanatiker des Hortens, die Programmierer des zukünftigen Wohlstands vor der Hungersnot, der Strenge des Winters, den Überschwemmungen, den Seuchen, den Naturkatastrophen und dem sich fortzeugenden Elend der Jahrhunderte zu schützen gewußt? Es steht ihnen wahrlich gut an, das bejammernswerte Schicksal des sogenannten Höhlenmenschen zu beklagen! Sagt also Dank, liebe Leute, dem Blitzableiter, dem Kühlschrank und der Klimaanlage in den Hotelzimmern, und vergeßt nicht, dieses vielstimmige Lob mit den Kriegen, den Völkermorden, den Revolutionen und den Repressionen in Verbindung zu bringen, durch die es sich hindurchzuzwängen galt, um sich gegen das Gewitter und die glühende Hitze zu schützen!

Wenn man als Geburtsdatum der Warenzivilisation die Entstehung des befestigten Dorfes Jericho um etwa 7000 vor dem Golgatha-Exhibitionisten ansetzt, besteht sie seit etwa 9000 Jahren, wobei sie im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte ein wahnsinniges Durchdrehen des ökonomischen Prozesses erlebt hat. Die vorausgehende Periode umfaßt eine fünfmal längere Zeitdauer, und es wäre verwunderlich, wenn die menschliche Gemeinschaft, bei der Unkenntnis, mit welcher der zivilisatorische Geist sie so lange verhüllt hat, nicht mehrere Entwicklungswege und mehrere Erfahrungsströme entworfen hätte.

Vielleicht hat sich hier und dort ein Hinauswachsen über das Anpassungsverhalten angebahnt: die Schaffung natürlicher Bedingungen, dazu geeignet, jenen Selbstgenuß zu fördern, ohne den es keinen echten menschlichen Fortschritt gibt. Neben den Horden der Sammler und Jäger, von animalischen Sorgen um das Überleben beherrscht, mögen wohl Keimzellen von Gesellschaften zutagegetreten sein, in denen die Solidarität nicht aus der Verschwörung von Privatinteressen entstanden ist, sondern aus der Harmonie von Leidenschaften, die eine leidenschaftliche Liebe zum Leben umgaukeln.

Alles scheint darauf hinzuweisen, daß das Herz immer noch die Hochebenen erinnert, in die die besten menschlichen Gefühle zogen, bevor die Warenzivilisation sie auf ihren Karten wie viele andere terrae incognitae vermerkte. Hat nicht an einer solchen Remanenz die geheime Hochstimmung teil, die den merkantilen Gesetzen des Tausches und des Opfers zum Trotz der Liebe, der Freundschaft, der Gastfreundschaft, der Großzügigkeit, der Zuneigung, der spontanen Neigung zum Geschenk und der unerschöpflichen Kostenlosigkeit eine souveräne Macht verleiht?


Die ursprüngliche Kreativität

Sicherlich setzt die Kunst, sich den von der Natur aufgezwungenen Bedingungen anzupassen, eine Art Resignation oder zumindest eine gewisse Passivität voraus. Doch dies ist nur Schein. Wie kann man leugnen, daß sich in die Kunst des Fischfangs, der Jagd, des Sammelns sowie der gemalten und gravierten Botschaften ein Wille, den natürlichen Überfluß durch die Schaffenskraft herauszufordern, einschleicht? Analog betrachtet erwirbt das Kind im Laufe teils glücklicher, teils unglücklicher Empfindungen auf die gleiche Weise eine Summe von Kenntnissen aus der Umgebung, in die es sich wagt, und übt sich, Vorteile aus ihnen zu ziehen.

Der Gedanke, der Vorrat an Getreide, Fisch und Wild könne einem fertig in den Mund fliegen, ist eine sarkastische und beschauliche Vorstellung der Sättigung, eine Karikatur, die die Vergewaltigung und die brutale Ausbeutung der Natur durch die Arbeit rechtfertigen soll. Das, was wirklich auf dem Spiel steht, hängt mit der Fähigkeit zusammen, Überfluß herzustellen, die natürlichen Mittel zu vervielfachen, deren Gebrauch zu vervollkommnen und die daraus gewonnene Lust zu steigern.

In der reinsten Tradition der politischen Ökonomie hat die in den letzten Jahren des Jahrhunderts entstandene ökologische Strömung den Irrtum begangen, die Erschließung der sanften Energien - Wasser, Erde, Sonne, Wind, Gezeiten, Spiegeleffekte des Mondes, Humus - von den Forderungen einer individuellen Alchimie zu trennen, in der das Schicksal durch die geduldige Verwandlung des menschlichen Rohstoffes wirkt, indem es aus

den groben tierischen Trieben den Kristall des veredelten Begehrens herausschleift. Eine so ärgerliche Inkohärenz verurteilt diese Strömung dazu, eine Ideologie unter vielen zu sein, zu demselben Verlust an Glaubwürdigkeit bestimmt wie die anderen auch. Es gab jedoch Zeichen, die darauf hindeuteten, daß das Entgegenstellen der sanften Energien gegen die Todesenergien, die über die Erde das Leichentuch der chemischen und nuklearen Verschmutzung ausbreiten, nur in einem umfassenderen Projekt einen Sinn bekam, das die menschliche und die irdische Natur versöhnen will, um eine Welt mit dem alleinigen Zweck zu schaffen, sie zu genießen. Das gleichzeitige Auftauchen des ökologischen Protestes und der Emanzipationsbewegung von Frau und Kind, die das Ende einer tausendjährigen Herrschaft kennzeichnete, hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.


Frau und Zivilisation

Die Frau steht im Mittelpunkt der zu schaffenden Welt. Eine Zivilisation wird nicht nach dem Glanz ihrer Kunst, ihres Reichtums, ihrer Moral und ihrer Technik beurteilt, sondern nach der Achtung, die sie der Frau entgegenbringt. Überall da, wo die Sorge um den Menschen die Oberhand über die Strenge der Gesetze gewonnen hat, nimmt die Frau einen vorrangigen Platz ein. Wird sie verachtet, gedemütigt, versklavt, so weist der Grad ihrer Erniedrigung auf den schäbigen Zustand hin, in dem eine Gesellschaft, die sie als Objekt behandelt, sich gefällt.

Wundert sich jemand darüber, die Frau in der Kultur des jüngeren Paläolithikums überall gegenwärtig zu finden? Sie wählt die eßbaren Pflanzen aus, fördert ihre Aussaat, bereitet sie zu, um aus ihnen Nahrung, Getränk, Kleidung, Baumaterial und Schreibwerkzeug zu machen. Wie für das Kind, das sie in sich trägt, bietet ihre schöpferische Natur die von ihr sortierten und verbesserten Güter an, welche die irdische Natur in einer chaotischen Mischung aus Wohltuendem und Schädlichem spendet.

Die meisten graphischen Abbildungen geben der Frau zugleich die Züge der Amme und des Weibes mit dem erregenden Schamdreieck. Sie ist die große alchimistische Retorte, in der die materia prima der Begierden sich für das Versprechen aufeinanderfolgender Verwandlungen öffnet. In ihr vollzieht sich das Große Werk, das von der Arbeit des Mannes so lange in Acht und Bann geschlagen wird.

Ihre menschliche und befruchtende Natur hält sie von der Jagd als einer tierischen Tätigkeit fern, bei welcher der Spieß - und später die Flinte - nur die Verlängerung und die Vervollkommnung von Krallen und Kiefer eines Raubtieres ist. Im diametralen Gegensatz zum an den Todeszyklus geketteten Grobian leitet sie den Zyklus des sich selbst erzeugenden Lebens ein. Genau diese Wirklichkeit wird dann von der patriarchalischen Kultur durch eine Lüge umgekehrt, die das Christentum zu ihrer Vollkommenheit bringt: Die ideale Frau ist eine Jungfrau, die von einem Gott mißbraucht und geschwängert wird, um einen Menschen zu gebären, der die Menschen die Tugend lehrt, sich selbst zu töten.

Die Frau verkörpert die natürliche Kostenlosigkeit des Lebenden. Sie ist die Fülle, die sich anbietet. So wie sie ihre Lust im Spiel der Zärtlichkeiten zugleich gibt und verlangt, gibt sie sich der Liebe hin, die sie zu vollkommeneren Genüssen führt.

In der Frau und in der von ihr wiederbelebten leidenschaftlichen Beziehung behauptet sich jener neue Stil, der allmählich die Tradition der Vergewaltigung, der Eroberung der Erde und ihrer selbst ersetzt. Nach ihrem Bild entwickelt sich eine universelle Gebär- und Nährmutter, um mit den Mitteln einer endlich menschlich gestalteten Natur eine Menschheit zu versorgen, die nur auf das Vergnügen wartet, endlos geboren und wiedergeboren zu werden.


Sie verachten die Tiere, fürchten sich vor ihnen und tyrannisieren sie, weil in ihnen ein Tier lauert, zu dessen Bändigung sie einen "Geist" erfunden haben, der dazu berufen ist, Körper und Welt zu regieren.

DAS ENTSETZEN VOR DEM VERDRÄNGTEN TIER

Ihre Überlegenheit gegenüber den Tieren schreiben sie weder der Kunst zu, die natürliche Freiheit weiter voranzutreiben, noch einer Wissenschaft der Harmonie, die sie von der bei allen Tieren vorherrschenden Zwangsvorstellung befreien würde, gefressen zu werden oder zu verhungern. Nein das, wodurch sie sich von ihren "niederen Brüdern" unterscheiden, ist eine geheimnisvolle Substanz, ein "Geist".

Eines solchen Vorrechts beraubt, erleben Bär, Hund und Waschbär die Ungnade, ihrer kümmerlichen Kost auf gut Glück in den Savannen und Wäldern oder auf den Straßen nachspüren zu müssen. Die Menschen dagegen, denen der Geist von den Göttern geschenkt wurde, genießen nicht das Glück, sondern das Gold als Symbol einer Vorrangstellung, die es erlaubt, alles zu erwerben. Auf diese von einer subtilen und flüchtigen Macht gewährte Ehre gründet sich ihr Recht, diejenigen wie rohes Vieh zu behandeln, die auf einer niederen Stufe der Geisteshierarchie stehen. Sie bezeichnen die Herden von seelenlosen Bauern, Proletariern und Kolonisierten, die unter der Zuchtrute eines Hirten, Königs, Priesters, Generals oder Bürokraten stehen, mit Ausdrücken wie Rindviecher, tollwütige Schafe, Schweinehunde oder Affen. Die Unproduktiven, die ständig von den Teufeln der Wollust und der Belustigung verführten Frauen und Kinder, geraten übrigens in denselben Verruf.

Jede Wertbestimmung gemäß dem Geist, die den Mann über die Frau und den tierischen unter den wesensmäßigen Menschen setzt, geht wie eine Aktiengesellschaft vor, bei der die Dividende in Ressentiments und Schikanen ausgezahlt wird. Dieses Prinzip, wie monarchistisch es ursprünglich auch gewesen sein mag, paßt ebenso zur Demokratie: Keiner ist so ungehobelt, so ungehemmt, so mittel- und machtlos, daß er sich nicht auf seine Eigenschaft als Mensch beruft, um seine Frau zu verprügeln, seine Katze zu schlagen, den Neger und das Kind übel zuzurichten. Wer sich als Engel ausgeben will, braucht ein Tier.

Welch bewunderungswürdige Gerechtigkeit spiegelt diese Kaskade der Verachtung, die von einem Individuum auf das andere hinabstürzt - vom obersten Chef bis zur Kloake der Animalität, in welche die Schuldgefühle, Ängste und Schwächen derer, die sich als Herren der Schöpfung aufspielen, unter dem Zeichen des Sündenbocks entleert werden!


Die Herrschaft des Geistes

Sie haben einen feinen Unterschied zwischen Klugheit und Geist eingeführt. Was nützt es einem Elefanten, klug zu sein; es fehlt ihm so schrecklich an Geist, daß es kein ehrenhafteres Ende für ihn gibt, als unter den Kugeln eines vom göttlichen Funken beseelten Wesens, sei es ein Elfenbeinhändler oder ein Staatsoberhaupt, zu fallen. Solcherart war übrigens auch das Los des Negers und des Indianers, ehe eine Bescheinigung, sie seien mit Geist ausgestattet, sie von dem zur Jagd freigegebenen Wild ausgeschlossen hat.

Der Geist hat die Götter überlebt, von denen es hieß, sie hätten ihn einst den Menschen als Gegenleistung für einen beträchtlichen Apparat an Ritualen, Opfern und Katzbuckeleien verliehen. Er hat bloß seinen sakralen Charakter eingebüßt, indem er vom Geldbeutel des Priesters in die Hände von Ideologen, Politikern und Psychoanalytikern überging, die ihn stark geschwächt haben. Der Grad seines Verfalls macht es heute möglich, besser zu mutmaßen, was er eigentlich war, bevor eine mythische Blähung ihn über die Erde hinaus bis zum Reich der Götter trieb; von dort aus begann er im Kopf der Menschen zu stinken.

Der zum Regenschauer gewordene Sumpf kehrt zum Sumpf zurück. Der Geist ist aus der Funktion geboren, in der er von nun an stirbt: aus der durch Arbeitsteilung erzeugten intellektuellen Funktion.

Es gibt nichts Irdischeres als jene vorgebliche Ausstrahlung des Himmels, nichts, das sich leichter als die im Jenseits untergebrachte Transzendenz in der Geschichte lokalisieren läßt. Sie ergibt sich ganz banal aus der gesellschaftlichen Trennung von Herren und Sklaven und aus jener körperlichen Trennung, die eine geistige Instanz gegen die natürlichen Instinkte errichtet mit dem Auftrag, sie zu unterdrücken, um sie zur Arbeit zu bringen. Nur durch Betrug konnten die geistigen Werte der niedrigen Gewinnsucht entgegengesetzt werden. Es gibt keinen anderen Geist als den jener Ökonomie, die das Lebende ökonomisch gestaltet. Es gibt keinen anderen Geist als denjenigen, der die Produktion einer Welt der toten Dinge lenkt.

Der Sklave ist sowohl im gesellschaftlichen wie auch im individuellen Körper gegenwärtig. Die tierische Natur arbeiten zu lassen - darin besteht die Arbeit des Herrn.


Das durch Arbeit gebändigte Tier

Der Schweiß war der vorherrschende Duft ihrer Zivilisation. SeItsamerweise aber wurde ihr Geruchssinn durch die herben Ausdünstungen der Handarbeiter belästigt. Der Schweiß der sich mit Staatsgeschäften abrackernden Könige, der von Niederlagen verfolgten Generäle, der über dem Schachbrett des politischen KaIküls schnaufenden Volksvertreter, der sich an jener Stufenleiter der Macht festklammernden Bürokraten, die sie über Nacht an den Galgen brachte, dieser Schweiß schien ihnen Rosen- und Veilchenduft zu sein. Stanken diese Aristokraten, diese Honoratioren und Privilegierten, die vom Arbeiter wie vom letzten Dreck im tiefsten Loch sprachen, nicht genau wie der Fuhrmann nach Anstrengung und Mühe der geschundenen Stunden? Was waren sie anderes als bedürftige Kopfarbeiter, rührige Träger von Krone und Mitra, von Käppi und Hut?

Nun ist es aber so - die Handarbeit riecht nach Lasttier, weil sie mit dem Körper, dem Klumpen aus Muskeln, Blut und Nerven, verschraubt ist. Einen Etat aufstellen, eine königliche Schatulle füllen, Kapital gewinnbringend anlegen oder einen Mehrwert herauspressen - all das wird nicht als Arbeit gebrandmarkt: Es hat am reinen Tauschwert teil, bei dem das Geld regiert und nicht stinkt.

Arbeit - das Wort hat den üblen Beigeschmack von Tötung und langsamem Todeskampf. Es ist der Schmutzfleck aus Schlamm und Eiter, der die verborgene Seite des Goldes besudelt: die dezimierten Sklaven, die ausgezehrten Leibeigenen, die durch Müdigkeit, Angst und die Last des anbrechenden Tages niedergesäbelten Proletarier, das zum Lohn zerstückelte Leben. Das echteste Denkmal zu ihrem Ruhm sind also jene mit der Parole "Arbeit macht frei" versehenen Wachttürme. Die Botschaft drückt die Quintessenz der Warenzivilisation aus: Die Arbeit macht frei vom Leben.

Übrigens hat es ihnen genügt, die KZ-Industrie von Buchenwald und Kolyma als unnütze Barbarei anzuprangern, um auf demselben Weg weiterzumachen, ohne allerdings den verbrauchten Arbeitern das Äußerste, die Gaskammern, zuzumuten. Sind sie nicht darauf gekommen, den Proletarier zu ehren, die körperlichen Anstrengungen zu desodorieren, die Fabriken und die Schönheit des Dockarbeiters zu besingen und den Arbeiter sogar in der Art von Alphonse Allais zu intellektualisieren, der im Briefträger einen mit den Füßen wirkenden "homme de lettres" gesehen hat?

Die Arbeit ist etwas Gutes geworden, seitdem sie wahrgenommen haben, daß fast alle fast überall und fast immer arbeiten.

Nie hat es so viele Proletarier gegeben wie seit dem Verschwinden des Proletariats. Wird die Macht der Phantasie sich mit der Macht der Zahl verbünden müssen, damit das Augenfällige zum Gemeinplatz wird: Nur wer zu leben anfängt, befreit sich von der Arbeit und vom Tod, den sie produziert?


Ihre angebliche Humanität ist nichts anderes als eine sozialisierte Animalität.

Eine halbmenschliche Zivilisation

Sie verbieten es sich, von den elementaren Freiheiten des Tieres Gebrauch zu machen, verhalten sich aber grausamer als Raubtiere. Als Beweis dafür seien nur die Schandtaten angeführt, die zu jeder Zeit unter dem Deckel des Heldentums, der Heiligkeit, des guten Gewissens und des Humanismus geschmort haben.

Der die Bestialität transzendierende Geist ist schlimmer als die Bestialität selbst. Um zu töten, braucht der Tiger weder den Auftrag Gottes noch die Staatsräson, die Reinheit der Rasse oder das Heil des Volkes; ihm ist die Heuchelei einer Gesellschaft fremd, die seine Grausamkeit geißelt, seine räuberischen Schliche und seine Tyrannei jedoch nachmacht und sich genau wie er Weibchen und Revier aneignet.

Nachdem sie überall verkündet haben, der Mensch sei schwach durch das Fleisch, aber groß durch den Geist, haben sie einen Unmenschen Übermensch genannt, der auf eine stumpfsinnige Art aggressiver ist als alles, was die Natur je hervorgebracht hat, und sich einen ökonomischen Dschungel divergierender Interessen zum gesellschaftlichen Vorbild genommen hat, wo der Stärkere den Schwächeren erdrückt.

Es ist noch keine dreißig Jahre her, daß das Bündnis zwischen Krämerlist und Militärgewalt als vollendetes Vorbild des Ehrenmannes galt. Verkrampft auftreten, die Brust herausstrecken, entschlossen im Gleichschritt marschieren und denken, seine Waffe verstecken, um besser zuzuschlagen - das hieß für sie "Charakter haben". Alexander, Cäsar, Brutus, Augustinus, Voltaire, Bonaparte und Lenin füllten das erzieherische Pantheon, wo das Kind in dem Versprechen kniete, eines Tages den großen Kaulquappen zu gleichen, die der Geist des Haudegens und des Schacherers verklärt hat.

So haben Generationen gelernt, was es hieß, ein Mensch zu werden: daran arbeiten sich zugrundezurichten, die eigene Kreativität leugnen, den Genuß verdrängen und sich durch bittere, zwanghafte Handlungen entladen.

Sie haben jegliche Wirklichkeit auf den Kopf gestellt und aus dem Körper eine Erdscholle gemacht, die im Laufe eines vergänglichen Lebens ein echtes Fragment der himmlischen Ewigkeit gefangen hielt. Nun ist die Falle nicht der Körner, sondern der Geist: Das vom Leben getrennte Denken schnappt zu und hackt dem Leben die Begierden ab. Der Körper, seinen Genüssen entrissen und zur Schmach der Arbeit geschleppt, spricht sein Martyrium heilig. Der denkende Kopf leugnet seine fleischliche Natur, ohne die er nichts ist, und umgibt sich mit dem Glanz einer mythischen Krone, in dem sich die ganze Lüge der verkehrten Welt widerspiegelt.

Der Geist hat den Körper mit einem "ontologischen" Leid besudelt, von dem er die Stirn hat zu behaupten, es würde durch seine ätherischen Ausdünstungen gelindert. Nachdem das Leben diesseits der vergeistigten Existenz verdrängt worden ist, läßt es sich nur jenseits des Todes entdecken.


Die Tiere passen sich den natürlichen Verhältnissen an und die Menschen einem System, das das Lebende entstellt. Deshalb machen die einen keine Fortschritte, während die anderen gleichzeitig voran- und zurückschreiten.

Die Menschen des Überlebens ...

Daraus, daß das Tier überlebt, indem es sich den Umweltbedingungen anpaßt, haben sie gefolgert, daß es sich anpaßt, um zu überleben. Das hieße, dem Tier das Denken eines Eroberers und Marktinitiators zu unterstellen.

Das Tier kennt nur die Sorge darum, sich zu ernähren, sich zu schützen und seinen Geschlechts- und Spieltrieb zu befriedigen. Die Schule der Natur führt es in die Praxis des Verführens, Belauerns, Schutz Suchens und des Umherschweifens ein. Es erwirbt dabei eine Art hautnahes Wissen über den Rhythmus der Jahreszeiten, die Tier- und Pflanzenwelt, die Umwelt und sein Revier; es erhält dadurch bessere Chancen im Kampf, den es tagaus, tagein und jeden Augenblick für seine Existenz führen muß.

Die einzige Spezies, die sich anpaßt, um zu überleben, ist die menschliche. Ihr ganzes Genie hat nur dazu beigetragen, das Tier zu verunstalten, indem es dem Menschlichen Gestalt gab, und von einem zufallsbedingten zu einem programmierten Überleben überzugehen, das oft schlimmer ist als ersteres.


... sind die Menschen der Ökonomie

Die Ausbeutung der Natur durch Ackerbau und Handel hat zunächst offensichtliche Vorteile gebracht. Sie hat die Bedrohung beseitigt, die Klimaveränderungen und Bevölkerungszuwachs für die bisher durch Sammeln und Jagen garantierten Vorräte darstellten.

Kornspeicher, technische Entwicklungen und Güterumlauf hätten den guten Ruf ihrer Zivilisation glaubwürdig erscheinen lassen, hätte der Preis, der dafür entrichtet werden mußte, nicht das verhängnisvolle Ausmaß von Krieg, Hungersnöten, Verwüstungen der Ernten und Knechtung vieler zugunsten einiger erreicht. Um das Unglück voll zu machen, lief man Gefahr, die natürlichen Vorräte zu erschöpfen, die man in einen abstrakten Reichtum ohne wirklichen Gebrauch verwandelt hatte.

Ist es unberechtigt zu meinen, die Menschheit habe die falsche Entwicklung eingeschlagen und auf ihr eigentliches Genie verrichtet, sie habe sich in die Abhängigkeit von einem Überlebenssystem begeben, sie habe aus einem ökonomischen Denken heraus ihre Animalität verdrängt und gegen die menschliche Qualität schlechthin verstoßen, die darin besteht, die Welt nach dem Bild des unersättlichen Begehrens zu schaffen?

So lautet die jüngste Meinung, welche die einen tief betrübt und die anderen erfreut. Für die ersten ist das Spiel aus und verloren; es geht nur noch darum, zwischen Ekel und Hoffnungslosigkeit hin und her zu gehen, ohne das Gesicht zu verlieren. Für diejenigen aber, die fühlen, daß sich ein neues Leben in ihnen regt, ist die letzte Seite des Archaismus umgeschlagen und die nächste soll mit der Feder jedes einzelnen Schicksals geschrieben werden. Unter dem äußeren Schein einer großen Unbekümmertheit schwelt eine vorbehaltlose Gewalt und während das Gespenst des Krieges und der herkömmlichen Revolution sich entfernt, lehnt sich die nicht kontrollierbare Üppigkeit des Lebenden in heimlichem Trotz gegen die Vorsätze des Todes auf.


Sie dachten, sie hätten die Welt zu ihrem Profit verändert, und nun hat der Profit beide verändert, sie und die Welt.

Die Verstümmelung der Geschichte

Sie haben das Reich der Ökonomie bis an die äußersten Grenzen der Erde getrieben und damit aus dem Menschen die schönste Errungenschaft der Unmenschlichkeit gemacht. In dem Moment, da die Warenzivilisation die Kulturen der Sammler, Hirten und der Symbiose mit der Natur ablöst, unterbricht sie den Schöpfungsprozeß des Menschen durch den Menschen. Der Warenzivilisation verdanken wir eine zyklische Jagd von neun- bis zehntausend Jahren, in der die Aneignung materieller und geistiger Güter einer Leidenschaft zu leben hinterherhechelt, diese Leidenschaft verschleißt und zu erreichen sich verbietet. Ihr zügelloses Rennen geht an dem einzig wirklich schätzenswerten Fortschritt vorbei: der gleichzeitigen Ausweitung der Genüsse und der sie verfeinernden Verhältnisse.

Sie haben die Ware geschaffen, und die Ware hat sie abgeschafft - das ist ihre ganze Geschichte. Die von ihnen produzierte Ökonomie hat sie nach ihrem eigenen Bild reproduziert. Sie haben mittels Repräsentationen gelebt, und die Repräsentationen haben sich verändert: Sie sind vom Göttlichen ins Irdische, von den Religionen in die Ideologien, vom Gepränge in den Ruin übergegangen und haben dann die Menschen der Ökonomie als Opfer ihrer zerbrochenen Widerspiegelungen im Stich gelassen. Das ist ihr ganzer Fortschritt.

Sie sind stolz darauf, im 20. Jahrhundert die letzten Götter abgeworfen zu haben, um den Kult des Humanismus ins Leben zu rufen. Damit hat die Ware bloß ihre Verpackung geändert, sie hat ein menschlicheres Aussehen angenommen. Von nun an garantiert die liebevolle Sorge für Mann, Frau und Kind ihre Verkaufsförderung viel besser als das Bajonett des Soldaten oder das Kruzifix des Priesters. Wo die Schlacht gewonnen ist, muß man nur noch überzeugen.


Der Fortschritt

Die Warenzivilisation hat den Menschen zum homo oeconomicus gemacht und sich leider die Verwandlung zum Menschlichen erspart. Ihr Triumph ist offenbar, da sie überall ist, aber ihr Zusammenbruch ist nicht weniger deutlich, da das Lebende ihr fremd ist und der von ihr gespendete Wohlstand durch einen ständig zunehmenden Lebensmangel bezahlt werden muß.

Die immer weiter expandierende Ware hat wie eine Enthüllung gewirkt; sie hat den ursprünglichen Zwiespalt, in den die Entwicklung getrieben wurde, immer genauer aufgezeigt; sie hat ihn sogar vor der Nase der Kurzsichtigsten wie eine Fahne geschwenkt.

Das Drama der Trennung spielt sich nicht mehr zwischen Himmel und Erde ab, sondern zwischen dem Lebenswillen jedes Einzelnen und jenem Tod, der ihn beherrscht. In der Morgendämmerung der Geschichte wie in der alltäglichen Morgenröte des Lebens hat sich das Menschliche verleugnet; es verleugnet sich weiterhin als körperliche Wirklichkeit, um sich als abstrakte Form aufzuspielen, um durch den Geist zu herrschen.

Es kam der schöpferischen Intelligenz der Menschheit zu, die materia prima der Animalität zu verwandeln, aber sie hat sich vom Körper entfernt und göttliche Ungeheuer sowie irdische Zwitterwesen erzeugt, halb Tier, halb Mensch.

Von den Göttern der Ökonomie wurden sie dann unter dem Deckmantel des Seelenheils verdammt - so der besonders exemplarische Gott der christlichen Mythologie, der den eigenen Sohn kreuzigt, um ihm das höchste Gut zuzusichern. Das, was jeder in sich tötet und was als grausame Nachahmung eines Engels wiederaufersteht, ist bloß sein tierisches Fundament, die Üppigkeit der Grundbedürfnisse, in denen allein der Wille, über sie hinauszuwachsen, Wurzeln schlagen kann.

Auf halbem Weg zu ihrer Bestimmung sind die Menschen in die Falle ihrer sozialisierten Animalität gegangen und steckengeblieben. Ihre Freiheit hat sich die Grenzen eines Vertrages auferlegt, der den Pegel der verdrängten Bestialität und ihrer ausgleichenden Abreaktionen regelt. Verstrickt in der Unbefriedigtheit des unterdrückten Körpers und den Mißmut eines Geistes, der den Körper nicht völlig zügeln kann, vegetieren sie freudlos dahin und sinnen darüber nach, wie sie sich von diesem Dasein durch den Tod befreien könnten, statt daß sie aus dem Tier die Quelle des sich entwickelnden Menschlichen machen.


Der Ackerbau hält ihre Zivilisation in einem Kreis der Unbeweglichkeit fest, dessen Radius durch den expandierenden Handel ständig vergrößert wird.

DER AGRARKREIS

Das Landgut hat sie mit einem Wall umgeben, der sie zugleich schützt und einschließt. Die Furche, die das Gebiet umzieht, das sie bebauen und besetzt halten, schirmt sie ab und umgibt sie mit einer ständigen Gefahr. Sie mögen die Grenzen noch so sehr erweitern, den nutzbaren Boden immer tiefer aufgraben, das Dach ihres Hauses bis zur Unendlichkeit des Himmelsdomes erhöhen - sie sind durch den Aneignungsakt eines Gottes, eines Herrn, des Geistes, der von ihrem Kopf Besitz ergreift, für immer in einen schäbigen Raum gezwängt. Von nun an werden sie sich im Kreise drehen - je nach der Länge der Kette, die ihnen von dem bewilligt wird, was die Ökonomie ihrer Funktion und ihre ökonomische Funktion zugleich ist: die Weiterentwicklung der Bodennutzung und der Güteraustausch.

Wie könnte man irgend etwas Neues unter der Sonne sehen, wo doch alles im Bauch desselben Zubers verschmutzt und gewaschen, vermengt und entmischt wird, auch wenn dieser das Ausmaß eines Dorfes, einer Stadt, eines Staates, eines Reiches, eines Erdteils, des Planeten oder sogar der Galaxien hat, die, soweit die Langeweile reicht, durch die gleichbleibende Sorge kolonisiert werden, Geld zu verdienen, eine Macht zu festigen und Märkte und Gebiete zu erobern?


Das Grauen vor dem Draußen und dem Drinnen

Jenseits der Grenzen, die das Eigentum festlegen, beginnt das Land, das keinem gehört, das Land der unorganisierten Natur, ein wildes und in den Augen der ersten Ackerbauern feindliches Chaos. Wie gut versteht man, daß die an den bearbeiteten Boden gefesselte bäuerliche Gemeinschaft sich in ihrem Schneckenhaus verkriecht und sich im angstvollen Warten auf Eindringlinge hinter ihren Gräben und Mauern zusammenkauert. Ist ihre Gegenwart nicht eine Beleidigung und eine Herausforderung gegenüber der natürlichen Freiheit der Umherschweifenden?

Es gibt keinen einzigen Stein in der von der Agrargesellschaft errichteten Befestigungsmauer, der nicht die Nomaden zum Eindringen reizt, die Flutwelle von außen anzieht und der, durch die Zivilisation des Geistes zementiert, nicht das Grauen vor der tierischen Barbarei und ihre Verlockung, die vom Tier herrührende Apokalypse, zu sich herabruft.

War übrigens dieses befestigte Lager, das den hin und her ziehenden Sammlern und Jägern seine ungewöhnliche Absperrung entgegensetzte, für die Nomaden etwas anderes als ein Vorrat, eine Nachernte, die eingeholt werden konnte? So wurde das Sammeln zum Plündern und die Migranten wurden zu Enteignern, d.h. zu potentiellen Eigentümern.

Die Horden gerieten über die ihrer Bewegungsfreiheit entgegenstehenden Hindernisse in Wut; diejenigen, die der Vernichtung entgingen, eroberten die Dörfer und schlossen sich ihrerseits dort ein. Das war das Ende der dem Neolithikum vorausgehenden Kulturen, in denen die Ökonomie noch nicht uneingeschränkt herrschte.

Die Seßhaftigkeit ließ die Verhaltensweisen in der Routine der Furche erstarren. Sie hält die Veränderung für eine Drohung und das Unveränderliche für eine Sicherheit. Die beruhigende Wiederholung der jahreszeitlich bedingten Gesten schließt den zum Kreis gewordenen Lauf der Zeit und bringt ein zyklisches Denken, die Redundanz des Mythos, hervor.

Was für eine Frustration aber bedeuten die erzwungene Unbeweglichkeit, das auf das Recht hinein- und hinauszugehen herabgelassene Fallgitter! Zumal ein zweiter Ring im Innern entsteht: die unsichtbare Anwesenheit der Gesetze, die die Herren bewaffnen und die Sklaven machtlos machen, während der wie eine Festung gepanzerte Körner in der verwelkten und künstlichen Hülle eines Fötus erstarrt, die ihn schützt und einschließt. Wie sollte sich nach alledem jemand über die Aggressivität und die Grausamkeit wundern, die nach dem einmütigen Zeugnis der Historiker die Entstehung der neolithischen Dörfer und Stadtstaaten kennzeichnet?


Die Natur ist das Böse

Durch die Nutzung von Boden und Untergrund ist ein Bollwerk zwischen Natur und Mensch entstanden, d.h. gegen ihn selbst als ein natürliches, aus einer natürlichen Umwelt hervorgegangenes Wesen. Die Tradition der Antiphysis hat keine andere Herkunft.

In der patriarchalischen Gesellschaft wird der Natur dasselbe Los wie der Frau und der beherrschten Klasse zuteil. Nur aus der Entfernung ist sie bewundernswert. Schüttelt sie in der Wut ihrer entfesselten Elemente das Joch ab, das sie unterdrückt? Dann ist sie eine feindselige, mörderische, gräßliche Kraft, eine Gefahr für die Zivilisation. Läßt sie sich vom Pflug aufreißen und vergewaltigen, von der Rentabilität schwängern und entrechten und vom Denken unterjochen? Dann verdient sie die Herablassung des Herrn.

Draußen nicht unterworfen und im Inneren versklavt, muß sie jeden Augenblick von den schützenden Mauern herab im Auge behalten werden. Der Geist fürchtet sich vor dem Begehren des Fleisches, der Ausbeuter vor der Revolte der Ausgebeuteten und der Eigentümer vor der Enteignung.

Da sie auf eine Freiheit verzichtet haben, die zwar zufallsbedingt war, aber die Gestaltung eines menschlichen Schicksals und einer vermenschlichten Natur im Keim enthielt, finden sie nur in der Furcht vor den Göttern Sicherheit, in einem künstlich verlängerten embryonalen Schutz und in jenem widernatürlichen Gehege, wo die Ökonomie sie kastriert und erstickt. Für sie ist der Friede nur ein Krieg, dem der Atem ausgegangen ist.

Nur Selbsttäuschung läßt sie glauben, ihre erfinderische Technik mache sie größer. Mit der Eile des Menschlichen gemessen sind sie nur kleine, schwächliche Menschen, unfähig, etwas zuwege zu bringen, das nicht die Unmenschlichkeit und die Denaturierung weiter vorantreibt - würdige Nacheiferer jener Götter, die sie selbst gezeugt haben, indem sie Lebensunfähigkeit mit Herrschaftswahn paarten.


Privat oder kollektiv - die Ökonomie entmenschlicht gleichermaßen

Es gibt keine Absperrung, die nicht zum Durchbruch einlädt, kein Eigentum, das nicht die Gier der Ausgeschlossenen aufstachelt, kein Verbot, das nicht zur Übertretung verleitet. Ihr altes Sprichwort sagt es deutlich: "Grundbesitz heißt Krieg".

Sobald das Eigentumsrecht auch nur das geringste Stück Boden in seine technokratisch-lukrativen Zangen nimmt, wird die natürliche Kostenlosigkeit zerstückelt und versteigert. Das Wasser zur Bewässerung, der fruchtbar zu machende Boden, der Siedlungsraum, das Umherschweifen und sogar die Luft, alles läßt sich verzinsen, alles muß bezahlt und wieder zurückgezahlt werden, wobei Haß, Frustration und Aggressivität den Wuchersitten das Geleit geben.

Und was würde sich ändern, wäre das Eigentum an Feldern, Fabriken und Produktionsmitteln eher kollektiv als privat? Würde die natürliche Kostenlosigkeit, in die Hände aller anstatt einiger gelegt, nicht durch dieselben Privilegien der Ökonomie verleugnet und ausgeplündert werden? Wirkt sich etwa unter den Auspizien des Kollektivismus die Verschmutzung durch Rentabilität weniger als unter der Herrschaft des Monopolkapitalismus aus?


Die Unbeweglichkeit der Agrarwirtschaft

Die Fundamente ihrer Zivilisation ruhen auf zwei Pfeilern: Ackerbau und Handel. Dies sind die beiden Pfeiler eines Tempels, die ständig, wie tief sie auch in der Erde stecken mögen, die Illusion genährt haben, sie seien aus einem himmlischen Bauwerk hervorgegangen, dessen Geheimnis erst später gelüftet wird.

Indem die Furche der Agrarstruktur sich über Mensch und Gesellschaft wieder schließt, schließt sie gleichzeitig den Samen einer ständigen Furcht in beiden ein. Es ist die Furcht, die ausgetretenen Wege zu verlassen, von der Routine abzukommen, sich über Vorurteile und Bräuche hinwegzusetzen, sich für die falsche Seite zu entscheiden, sein Vermögen, seine Stellung, seine Gewohnheiten einzubüßen.

Ein Ruhelager der kränklichen Unermüdlichkeit tut sich auf, von den Alpträumen der Unbeweglichkeit geplagt: von den Mythen, den religiösen Dogmen, den reaktionären Ideologien, der Ablehnung jeglicher Veränderung und Weiterentwicklung, dem Haß und Schrecken gegenüber dem Fremden, dem Nationalismus, dem Rassismus, dem bürokratischen Despotismus, der Grausamkeit des Verbrechens und der Strafe, vom Fanatismus, von der Besessenheit nach Zerstörung und Selbstzerstörung.

Dort geht die Bestialität in die Falle einer gettoisierten Gesellschaft, einer Gesellschaft, die sich in ihrem fötalen und muskulösen Schutzpanzer so abkapselt, als ob sie umstellt wäre. Diese starre Gesellschaft, die den Kult der patriarchalischen Männlichkeit erzeugt, besteht fort bis in die Modernität solch industrialisierter Länder wie der stalinistischen UdSSR, dem maoistischen China, dem nationalsozialistischen Deutschland und den Vereinigten Staaten, in denen die Stoßkraft von 1789 die Umklammerung des Bewußtseins und die Fessel der unveränderlichen Verhaltensweisen nicht aufbrechen konnte.


Die Beweglichkeit der Ware

In demselben Maße, wie die Ausbeutung des Bodens in der Beständigkeit ewiger Wiederkehr Wurzeln schlägt, so erzeugt der Handel - das heißt der geeichte Austausch durch Arbeit produzierter Güter - die Beweglichkeit: Er leitet die Veränderung ein und führt zur Öffnung. Er überwindet die vertrauten Mauern und die bekannten Grenzen, wagt sich in wilde Gebiete vor, erforscht die unverletzte Natur und siedelt Handelsniederlassungen und Märkte, diese Brückenköpfe der Zivilisation, in immer weiterer Entfernung an. Er ist der Arm, den eine kleinmütige Herrschaftsform, eingezwängt in einer engen, rein landwirtschaftlichen Ökonomie, nicht nach anderen Territorien auszustrecken wagen würde. Er ist der erobernde Flügel, der die ganze Schwere einer eingemauerten Kultur nach anderen Horizonten verlagert. So sprengt er den Kreis der bäuerlichen Unveränderlichkeit, ohne ihn abzuschaffen.

Der Handel reißt den Menschen aus seinem Gehäuse und treibt ihn weiter nach vorne mit der Dynamik des Nutzens; er stellt ihm ein geräumigeres Haus zur Verfügung - das zu erobernde Weltall. Seine unersättliche Gier regt ihn dazu an, immer tiefer in den Untergrund hineinzugraben, um dem Stein, der Kohle, dem Erz, dem Öl, dem Uran die Quintessenz des Profits zu entreißen. Er höhlt auch das Innere des Menschen aus, damit die tiefsten Sphären des Geistes und des Fleisches von keiner Maschine unberührt bleiben. In seinem Kielwasser entstehen Wagemut, Erfindungsgeist, Fortschritt und Humanismus.

Selbst für die kühnsten Fahrten schließt sich der Kreis der Heimreise. Die in See stechenden Schiffe kehren zum Hafen zurück und das Gesetz des Gewinns herrscht bei der Ankunft wie bei der Abfahrt. Ob Abenteurer, Pionier, Forscher, Phantast, Prophet oder Revolutionär, keiner nimmt einen Weg, wie ungewöhnlich er auch sein mag, der nicht zu einem Ladentisch führt.


DER KREIS DES HANDELS

Die Warenexpansion hat die menschliche Hoffnung immer mit aller Kraft und Mühe getragen, um sie genau dann hinzuwerfen, wenn ihr eigener Nutzen nachließ. Sie kann noch so sehr die Bresche einer Freiheit in die theokratische, feudale oder bürokratische Unbeweglichkeit schlagen, man sollte doch wissen, daß sie schon vor dem möglichen Gebrauch dieser Freiheit zum eigentlichen Thema der Rentabilität zurückgekehrt ist.

Und was entdecken diese Leidenschaften, die durch starre Gesetze, erstickende Traditionen, moralische Strenge und neurotische Hemmungen unterdrückt und wütend gemacht wurden, wenn sie über die Mauer springen? Die Pflicht, die neuen Rechte der Überschreitung zu bezahlen! So läßt die Ausschweifung dem Puritanismus Gerechtigkeit widerfahren, der Liberalismus der Tyrannei, die Linke der Rechten, die Revolution dem Despotismus, der Friede dem Krieg und die Gesundheit der Krankheit.

Man berufe sich hier nicht auf den Effekt eines angeblichen Naturgesetzes: Nur Effekten kommen hier ins Spiel. Die Übermacht des Tausches hat seine Marktstruktur den Verhaltens- und Denkweisen, den Sitten, der ganzen Gesellschaft aufgezwungen. Es ist heute so augenfällig, daß es keinen Bereich gibt - Ideologie, Politik, Kunst, Moral, Kultur, Unterdrückung oder Revolte -, in dem der Bankrott der Ökonomie nicht einen Kurssturz, einen Rückgang der Werte, eine Ermüdung von Angebot und Nachfrage, eine Undifferenziertheit zwischen Vorder- und Rückseite, Modernem und Altem, Mode und Vergessen nach sich zieht.


Das Ende der apokalyptischen Zeiten

Von Anfang an und bis in die industrielle Expansion hinein hat das Agrargehege aus dem belagerten Leben und der belagerten Stadt Wutausbrüche und Ängste ausgeschwitzt. Tag und Nacht wacht die Apokalypse an den Toren der Stadt. In jedem Augenblick und aus jeder Richtung können die Flammen der Zerstörung emporschießen und man glaubt geradezu eine Art Erleichterung zu spüren, wenn endlich die Horden der Plünderer, der Erbfeinde, der Aufständischen losbrechen und wenn der Tod der epidemische, nukleare oder chemische - auftaucht und sein Versprechen erfüllt.

Es trifft zu, daß sie, die sie in der Angst vor dem Schwert leben, auch durch das Schwert töten und durch das Ritual des Opfers Sühne wie Rache besiegeln. Niemals fällt ihnen etwas anderes als die eigene Spucke aufs Maul zurück. Das sie verzehrende Feuer ist das Feuer, das sie selbst entzünden oder welches zumindest durch das mechanische Heißlaufen des auf die Arbeit beschränkten Lebens in ihnen und um sie herum entfacht wird.

An den Wendepunkten der Geschichte, dort, wo die Warenexpansion ihren Anlauf nimmt und die Lethargie der Agrargesellschaft bricht, blinken die Lichter der Apokalypse in verstärkter Helligkeit. Die aufeinanderfolgenden Wirtschaftskrisen und die von ihnen ausgelösten Umwälzungen haben niemals versäumt, das Lied von der Endzeit anzustimmen; diese Zeit ist jedoch schon so oft zu Ende gegangen, daß man heute nichts mehr von ihr erwarten kann, weder Glück noch Unglück.

Die Apokalypse hat sich in dem Jahrhundert abgespult, in dem sich unter dem Anschein einer ökonomischen Krise eigentlich eine Krise der Ökonomie, ein Zivilisationswechsel abzeichnete. Jetzt regt nicht mehr die Angst vor der Katastrophe zu Reformen an und führt zu Revolutionen, deren Scheitern sie programmieren würde. Allmählich lebt ein Selbstvertrauen wieder auf; als ob all das, was zur Üppigkeit und Unschuld des Lebenden erwacht, die ungewisse, individuelle und alltägliche Suche nach uneingeschränktem Genuß auf seine Seite bringen würde. Die sich vollziehende Verwandlung wird den überholten Zyklus einer Geschichte hinter sich lassen, in dessen Verlauf Revolutionen und Repressionen immer nur der Systole und Diastole der Ware gehorcht haben.


Die Vorgeschichte des Handels

Ackerbau und Handel haben die Entstehung der Geschichte geleitet. Ihre Vorgeschichte setzt sich jedoch aus Verhältnissen zusammen, die ihre Entwicklung möglich - wenn auch nicht notwendig - machten, und aus Lebensweisen, die durch die Entwicklung so weit in den Bereich des Unmöglichen zurückgedrängt wurden, daß man sich, will man Vermutungen über sie anstellen, an die durch die Machtübernahme der Ökonomie aufgezwungene Umkehrung der Verhaltensweisen erinnern muß.

Die von den Jägern der mittleren Steinzeit markierten und abgegrenzten Gebiete weisen schon auf das Agrargehege hin und lassen immer noch die vorherrschende Animalität erkennen, sowohl im Erlegen der Beute wie auch in der Sorge, das eigene Revier abzustecken.

Hingegen besteht ein Wille zur Humanität in der Kunst, Zusammenstöße zwischen zwei Gruppen zu vermeiden, die ein und dieselbe wildreiche Gegend begehren. Bekanntlich bringen die Tischgenossenschaft, die Exogamie und der Austausch einiger Blutstropfen das unmögliche Unterfangen zustande, aus zwei menschlichen Wesen und zwei unterschiedlichen Gemeinschaften derart ein und dasselbe Fleisch zu machen, daß das dem einen zugefügte Böse auch den anderen trifft und das von jedem freigebig geübte Gute für alle zum üppigen Genuß wird.

Die gemeinsam eingenommene Mahlzeit, die Paarung und die Vermischung des Blutes bewirken in einer Alchimie des Fleisches, an die sich die Liebenden aller Zeiten erinnern, die Vereinigung des individuellen und des kollektiven Körpers. Chylus, Sperma und Lebenssubstanz destillieren die Quintessenz des Vergnügens, zusammen zu sein, ohne aufzuhören, eigenständig zu sein.

Wird jemand bestreiten, daß sich in dem Brauch, Nahrung, Liebe und Blut zu schenken und zu empfangen, in diesem Reigen des Lebens, eine Entwicklung abzeichnete, in der nichts die Hervorbringung einer harmonischen, menschlichen Gesellschaft ausschloß, die ihre schöpferische Organisation auf die gleiche Art weiterentwickelt hätte, wie das mineralische, pflanzliche und tierische Reich seine eigene anpassungsfähige Organisation entwickelt hat? Hat nicht das kollektive Gedächtnis gerade daraus seine Sehnsucht nach einer Gesellschaft hervorgeholt, die sich nach dem rhythmischen Atemzug des Lebens richtet? Eine Gesellschaft, die keinen Zwang nötig hat, um Blutvergießen zu vermeiden, eine Gesellschaft, in der die Liebe erlischt und wiedererwacht, ohne Haß und Verachtung zu säen, eine Gesellschaft, in der das Recht zu essen, zu wohnen, umherzuschweifen, sich auszudrücken, zu spielen, sich zu treffen und sich zu liebkosen, nicht unter der Drohung einer ständigen Erpressung steht?

Der Selbstgenuß und der durch die anderen gewährte Genuß, die "alchimistische Hochzeit" mit der Natur, die Jagd nach der Lust im Labyrinth der auseinanderstrebenden Begierden - das war das in der Morgendämmerung der Geschichte undeutlich bereitgestellte Projekt. Die Geschichte hat es den Träumereien preisgegeben, weil sie wahrscheinlich ein Problem tiefgreifender klimatischer und demographischer Veränderungen nur innerhalb einer Agrarwirtschaft zu lösen vermochte, die das Überleben einiger zum Nachteil der meisten sicherte.

Alles, was von diesem Projekt überdauert hat, besteht aus verschwommenen Versprechungen der Brüderlichkeit, der Gleichheit, der Großzügigkeit und der Liebe, die Religion und Philosophie wie Kinderrasseln in ihrem blutigen Gepäck aufbewahren. Noch immer strahlt jedoch seine Wärme im Herzen der Kinder und der Liebenden; sogar die Sprache erinnert sich an ein ursprüngliches Glück, wenn sie hinter dem eisigsten Wort "Handel" [frz.: "commerce": "avoir commerce avec quelqu'un" = mit jemandem (Geschlechts-)Verkehr haben; "étre d'un commerce agréable" mit jemandem freundschaftlich verkehren] eine erotische oder freundschaftliche Beziehung heraufbeschwört.

Was bedeutet das ungewöhnliche Fortbestehen der Liebe und der Freundschaft in einem Begriff der zur wenig freundlichen Logik des Prinzips "Geschäft ist Geschäft" gehört? Daß die Erinnerung an das Lebende noch in der Form herumgeistert, die sie ihrer Substanz entleert hat.

Mit der "neolithischen Revolution" der Ökonomie weicht das sich rasch vermehrende Leben vor der sich rasch vermehrenden Ware zurück. Die Symbiose der Lebewesen und der Dinge, die Durchdringung der verschiedenen Arten werden durch einen Handel im modernen Sinne des Wortes ersetzt: den gewinnbringenden Austausch der durch die Arbeit produzierten Güter.

Der Zweikampf, Körper gegen Körper, bei dem die tierische Gewalt allmählich durch die Zärtlichkeit ersetzt wurde, verleiht den Sitten nicht mehr jene Sanftheit und Langsamkeit, in der die Konflikte gelöst wurden. Von nun an gibt es keine Geste mehr, keinen Gedanken, keine Haltung, kein Projekt, die nicht in eine buchhalterisch erfaßte Beziehung treten, in der alles durch Tausch, Geld, Opfer, Unterwerfung, Belohnung, Strafe, Rache, Kompensation, Abgaben, Gewissensbisse, Angst, Krankheit, Leid, Abreaktion und Tod bezahlt werden muß.

Die Leere einer bodenlosen Angst verzehrt diesen Körper, der von Natur aus so beschaffen ist, sich jedesmal mit Leben zu füllen, wenn der Genuß ihn mit Freude erfüllt. Seine Energie erschöpft sich als Arbeitskraft, seine Substanz sperrt sich in das Gefängnis einer abstrakten Form, sein Blick wendet sich von ihm ab wie von etwas Niedrigem und verirrt sich in die unendliche Dummheit himmlischer Vorschriften.

Die einzelne Person identifiziert sich mit dem anonymen Preis dessen, was sie produziert und was in ihrem Namen produziert wird. Abgesehen von einigen Leidenschaften, durch die sie immer noch mit dem in Not geratenen Leben verklammert ist, ist sie nur noch eine Ware: Sie besitzt einen Gebrauchswert, der aus ihr ein knechtisches Werkzeug für die verschiedensten Arbeiten macht, und einen Tauschwert, durch den sie wie ein Paar Stiefel ge- und verkauft werden kann. So hat der Handel für die Person die Stelle der Individualität eingenommen bis in unsere Tage hinein, in denen die Arbeitslosigkeit sie zum alten Eisen wirft, die Währungskrise sie abwertet und sie selbst wie durch einen Zauberschlag auf den Gedanken kommt, ihr Wert sei einzigartig, unvergleichlich und ohne Preis.


Die Arbeit hat den Körper mechanisiert, so wie sie einer Welt, die sie verändert hat, die Wirklichkeit ihrer Mechanismen aufgezwungen hat.

DIE ARBEIT

Mit der neolithischen Revolution hat die Welt eine andere Basis bekommen. Sie entwickelte sich in einer Symbiose von Natur und Mensch, hat aber das Unterste zuoberst gekehrt, indem sie zur Grundlage ihres Fortschritts und ihrer Zivilisation eine spezialisierte Tätigkeit machte, die die ursprüngliche Einheit zerstört, die Natur durch die Denaturierung ihrer Mittel erschöpft und ein Zwangssystem verallgemeinert, das aus dem Menschen einen Sklaven macht. Was für ein schönes Ergebnis: auf eine Praxis, die dem Tier unzugänglich ist, stolz zu sein und sich dann den Zugang zur Schöpfung zu verbieten, die das menschliche Genie schafft!


Die Mechanisierung durch die Ökonomie

Indem die Arbeit an die Stelle des schöpferischen Potentials tritt, dringt sie mit erschreckend zersplitternder Kraft in die Entwicklung ein. Unter der Schockwelle der sich wiederholenden Gesten, der lukrativen Verhaltensweisen, der sklavischen und tyrannischen Sitten löst sich der Reichtum des Seins in einen billigen Schund von Ideen und Gegenständen auf, die durch die Mechanismen des Habens zermalmt und sortiert werden.

Der Zwang, materielle und geistige Güter zu produzieren und zu konsumieren, verdrängt die Wirklichkeit der Begierden, verneint sie im Namen einer durch die Ökonomie geschmiedeten Wirklichkeit. Das, was damit zerbrochen und zu einem Räderwerk reduziert wird, ist nichts weniger als ein lebendes Ganzes, in der das mineralische, pflanzliche und tierische Reich im Tiegel der Natur zusammenschmolzen, um eine neue Spezies zu zeugen, die ihrerseits zeugungsfähig ist.

Mit zunehmender Genauigkeit zeigt die Geschichte, daß die Arbeit die Mechanisierung des Individuums und der Gesellschaft in dem Maße vervollkommnet, wie die Ware ihre Herrschaft über die Erde und den Körper ausbreitet.

Es steckt etwas Handwerkliches im ursprünglichen Hämmern des Genusses und in der Orgie, dem Aufruhr und dem Blutbad, in die er sich gewalttätig ergießt, sobald die regulierende Arbeit des Königs, des Priesters, des Beamten, des Plebejers, des Sklaven erlahmt. Es steckt eine industrielle Universalität in der revolutionären Wut, die den sich abreagierenden unterdrückten Leidenschaften das Bewußtsein einer unmittelbar bevorstehenden gesellschaftlichen Veränderung verleiht. Aber welch eine universale Ernüchterung, wenn sich herausstellt, daß die Revolutionen nur den Übergang von einer ökonomischen Stufe zu einer anderen zum Ausdruck gebracht haben und daß die neuen Freiheiten mitnichten die Freiheit zu genießen einbeziehen.

Allein die Arbeit, die die Welt verändert, ist die Triebkraft eines Fortschrittes gewesen, der überall die Niederlage des Menschlichen und das Bild des eigenen Sieges verbreitet hat. Seitdem der Zwang zu produzieren sich durch die Verführung zu konsumieren verlängert hat, ist die Arbeit aus einem Objekt des Abscheus zu einem Anlaß der Befriedigung geworden. Ihre Allgegenwart läßt keine Insel der Natur mehr übrig auf der Erdoberfläche - sogar Amazonien stirbt - und es gibt keine Leidenschaft in den Tiefen der menschlichen Seele, die in der Langeweile des Arbeitstaktes nicht zu Eis erstarrt. Die Ware hat die Lebensenergie der Erde sowie des Individuums bis zu ihren letzten Grenzen so restlos ausgebeutet, daß ein großer Schwächezustand den Wald Brocéliande und das wunderbare Verlangen, dort zu lieben, nur noch in den Tod führen.

Wer darauf beharrt, an einer solchen Welt teilzuhaben, versinkt in die wunderlichen Angewohnheiten und Wiederholungen des eigenen Totengeläuts. Wie seine ganze Existenz ist all sein Reden eine einzige Grabrede. Was beim menschlichen Schicksal auf dem Spiel steht, befindet sich von nun an zwischen hingenommenem Tod und zu schaffendem Leben.


Die Arbeit trennt den Menschen vom Selbstgenuß - das ist die Trennung, aus der alle anderen hervorgehen.

Die Kastration der Begierden

Der Mensch der Begierden ist von dem Arbeiter, zu dem er geworden ist, aus dem eigenen Körper vertrieben worden. Die Ökonomie konnte nur dadurch die Macht ergreifen, daß sie das Leben ökonomisierte, die Energie der Libido in Arbeitskraft verwandelte und den Genuß und die natürliche Kostenlosigkeit, in der das Begehren in Erfüllung geht und ständig wieder erwacht, in Acht und Bann tat.

Die körperlichen Triebe - die elementaren Bedürfnisse, sich zu ernähren, zu bewegen und auszudrücken, zu spielen und zu sexueller Lust zu kommen - sind in einen auf Profit und Macht gerichteten Eroberungskrieg hineingezwungen worden. Dieser Krieg, obwohl er sie gar nichts angeht, trifft sie genau in ihrem Willen, ihm zu entkommen.

Dem von seinem Verlangen nach Vollendung abgeschnittenen Individuum stehen nur noch die vielfachen Modalitäten seines Todes gegenüber. Die Arbeit ist für ihn ein bequemer Selbstmord von rein gesellschaftlicher Heuchelei: Sie beginnt damit, dein Leben das Wesentliche zu nehmen, den Rest besorgt die Routine. Glaubt ihr, daß so viele Generationen mit ihrem Willen zur Knechtschaft so viele jahrhundertelange Tyranneien möglich gemacht hätten, wäre nicht eine unzweideutige Kastration in der Kindheit vorgenommen worden?


Die Arbeitsteilung hat den Herrn und den Sklaven im Individuum und in der Gesellschaft hervorgebracht.

Die Abstraktion

Die Macht des Himmels, des Herrn und des Staates beginnt, sobald der Körper dem Diktat der Ökonomie gehorcht und damit auf die eigenen Genüsse verzichtet.

Die Arbeit, die den Menschen von sich selbst trennt, halbiert sich ihrerseits, indem sie sich in Kopf- und Handarbeit spaltet. Dieser Prozeß paßt in die Logik der Ausbeutung des Bodens und des Untergrunds -

Die Organisation des Pflügens, der Saat und der Ernte teilt die Zeit in eine Folge von Zwängen, ein jahreszeitlich bedingter Kalender lenkt die Tätigkeiten der Gemeinschaft, die Bewässerung setzt das Planen von Kanälen, die Verteilung des Wassers und die Wetterprognose voraus. Jede Jahreszeit bringt ihren Teil an Problemen mit sich, die gelöst werden müssen: Vorbereitung des Bodens, Festigkeit der Werkstoffe, Gewinnung der Rohstoffe, Verbesserung der Techniken, Beobachtung der Gestirne, sphärische Geometrie.

Erst wenn man die Dinge von oben betrachtet, ordnen sie sich nach der größten Effektivität. So fügen die den Organisatoren eingeräumten und von ihnen usurpierten Vorrechte den Türmen und Erdhügeln einen folgenschweren Sinn hinzu, der sie noch bedrückender macht, indem er ursprüngliche Zweckbauten in Monumente der Tyrannei umwandelt: Hügelgräber, Mastabas, Pyramiden, Bergfriede.

Die Herstellung von immer mehr Werkzeugen, die Bearbeitung der Erze, die Urbarmachung der Wälder, die Vermehrung der spezialisierten Aufgaben - dazu noch die Sorge, gegen die Habgier des Nachbarn den Ort zu verteidigen, in dem ein neuer Reichtum blühte -, all das trug dazu bei, in einigen Köpfen Wissen zu konzentrieren, das aus einer Praxis herrührte, die zunächst allen gemeinsam war.

Gleich einem Nebel ist das den Händen der Praktiker allmählich entrissene Wissen von der Erde aufgestiegen, um sich im Himmel zu verdichten und als Schauer niederzufallen, als käme es von den Göttern her. Die allen gemeinsame Erfahrung hat sich abstrakt in einigen Köpfen zusammengeballt, und diese haben aus ihr ein Geheimnis und eine Geheimlehre gemacht. Es ist kaum Zeit verstrichen, bis die Weisungen des Wissens zu Dekreten der Macht wurden.


Weltliche und geistliche Gewalt

Aus der Beherrschung des Raums, der Zeit, der Gewässer und des Tauschhandels ging die Sippschaft der Priester und der Könige hervor. Der Blitz der Befehle und der Donner der Kommandos sind aus einem Jenseits niedergegangen, das im Diesseits auf das Opfer gründete, das der Körper der Arbeit bringt, sowie auf die gleichmachende Kraft des Preises. So gelang es dem universalen Logos eines Zahlungsmittels, das überall im Umlauf ist und sein Gleichwertigkeitsprinzip aufzwingt, wie durch ein Wunder zwischen einem Ölfeld und zehntausend daraus zu vertreibenden Indianern das Zeichen "ist gleich" anzubringen.

Die Arbeit begründet nicht nur die irdische Ökonomie, sie spaltet von ihr auch, der eigenen Teilung entsprechend, eine himmlische Ökonomie ab, einen reinen und heuchlerischen Bereich des über die Materie herrschenden Geistes.

An der Spitze der hierarchischen Pyramide hat Gott den Priesterkönig mit einem Heiligenschein versehen bis zu dem Abschleifen, das im Jahre 1789 dem archaischen Weltgebäude durch die ersten Erschütterungen der industriellen Maschine aufgezwungen wurde.


Die Herabwürdigung der Erde und des Körpers

Während die Herren sich Vorfahren im Himmel ausdenken, um die Erde im Namen der Götter ausplündern zu können, krümmt sich der Körper zusammen und mit ihm die Gemeinschaft, die durch die Mauern und die Grenzen des Eigentums eingeschlossen wird.

Wie tief haben sie gewagt den Körper herabzuwürdigen, ohne den der Mensch nicht existieren kann, den Sitz aller Empfindungen, aller Kenntnisse, aller Genüsse und aller Schmerzen; diesen Lichtpunkt der greifbaren Wirklichkeiten, diesen Schmelztiegel, in dem die Alchimie der drei Reiche die Sensibilität des Kristalls, der Pflanzen und der Tiere in die menschliche Fähigkeit umwandelt, das große Werk der Natur zu vollenden!

Sie haben ihn auf zwei funktionelle Prinzipien, auf zwei übermäßig entwickelte Organe reduziert: einen befehlenden Kopf und eine gehorchende Hand. Der Rest hat den kalkulierten Wert von Abfällen auf der Metzgerbank: Das Herz ist nicht den Nutzlosigkeiten der Liebe, sondern dem Mut der Waffe und des Werkzeugs vorbehalten. Der Magen, der durch die Tafelfreuden verdorben werden könnte, ist dazu bestimmt, die physische Anstrengung zu unterstützen, während die wollüstige Benutzung des Gechlechts- und Harnorgans, das mit der Fortpflanzung und der Ausscheidung beauftragt ist, zu Sünde, Leid und Krankheit führt. Man schätze die den Genüssen eingeräumte Qualität ab, wenn es, nachdem die Mechanismen des arbeitenden Körpers ihre Schuldigkeit getan haben, dem durch die Geschäfte aufgeschobenen Glück frei steht, sich zu befriedigen.


Die Arbeit ist die gewinnbringende Ausbeutung der irdischen und der menschlichen Natur Die Produktion hat die Denaturierung zum Preis.

Die Partei des Todes

Die Arbeit, die auf das Sammeln der Vorräte folgt, die Erde, Wasser, Wälder, Wind, Sonne, Mond und Jahreszeiten dem Einfallsreichtum des Menschen anbieten, ersetzt die symbiotische Beziehung der Menschen zur Natur durch ein Gewaltverhältnis. Die Umwelt und das aus ihr hervorgegangene Leben werden auf die Stufe eines eroberten und immer weiter zu erobernden Landes herabgesetzt. Der Produzent geht mit beiden wie mit Aufsässigen und heimtückischen Feinden um.

Der Natur war dasselbe Schicksal wie der Frau bestimmt: Sie wurde als Objekt bewundert und als Subjekt verachtet. Sie ist vergewaltigt, zerfurcht, verwüstet, durch das Eigentum zerstückelt, durch das Recht gedemütigt und bis zur Unfruchtbarkeit ausgelaugt worden. Ist nicht der an das Hin und Her der Muskeln und den Schwulst des Geistes gewöhnte Körper der Triumph der Zivilisation über die sogenannten "niedrigen Instinkte" - das heißt, die Suche nach der Lust?

Man weiß, wie sehr all die Tugenden, die das Glück regierten, die Neigung verbreitet haben, zu zerstören und sich selbst zu zerstören. Wenn die allumfassende Arbeitsethik die Energie der Libido nicht absorbieren konnte, schüttete sich der Überschuß in Interessen- und Machtkonflikten aus, die von den vielen, heiligen Angelegenheiten von einer Fahne zur anderen herumgetragen wurden. Auch die menschliche Natur laugt jedoch aus und der Hedonismus, der die Befriedigung der Begierden auf den Konsum tiefgekühlter Lüste reduziert, ist nicht von ungefähr der Zeitgenosse der im Sterben liegenden Wälder, der Flüsse ohne Fische und der nuklearen Miasmen.

Die Arbeit hat den Menschen von der Natur und von seiner eigenen Natur so gründlich getrennt, daß von nun an nichts Lebendes mehr in die Ökonomie investiert werden kann, ohne die Partei des Todes zu ergreifen. Es ist verständlich, daß andere Wege sich abzeichnen und daß die ehemals als irreal abgestempelte Kostenlosigkeit nun die einzige Wirklichkeit ist, die geschaffen werden muß.






II. DIE ENTSTEHUNG DER MENSCHLICHKEIT



Die Herrschaft der Ökonomie hat einst die symbiotische Entwicklung des Menschen und der Natur zum Stillstand gebracht. Ihr Sturz belebt heute den Lauf des Lebenden wieder. Auf die Tyrannei der Arbeit folgt das Primat des Genusses, in dem das Leben sich herausbildet und fortbesteht.

DAS HERVORTRETEN EINER ANDERSGEARTETEN WIRKLICHKEIT

Was verbunden war, löst sich auf. Die Komplexität der alten Welt zerfällt in einen Wust von Wahrheiten, die keinen Widerspruch dulden und über deren Lächerlichkeit man nur staunen kann. Wie konnte man für so viele mit Bedeutung aufgeblasene Eitelkeiten leiden, kämpfen und sterben?

Es ist aus mit den Göttern, mit der Fatalität, mit den Verordnungen der Natur, der charakterlichen Determiniertheit und einem blinden, vom Zufall gelenkten Schicksal.

Von den großen theologischen, philosophischen und ideologischen Systemen, die das Dasein beherrscht und zwischen Scylla und Charybdis getrieben haben, wird bald nur noch das verstaubte Andenken der Gelehrsamkeit übrig bleiben.

Wesen und Dinge klären sich ab, die Einfachheit erlebt einen ersten blühenden Frühling und das Alltägliche nimmt das Aussehen einer Landschaft auf einer neuen Erde an. Wie ausgestorben ist die Nacht des abstrakten Menschen.

Das Kind wächst am Schnittpunkt eines neu entstandenen Bewußtseins heran, die ermatteten Liebenden lernen zusammenzukommen, der Arbeitseifer löst sich auf und macht die Grenze zwischen dem Begehren und dem Zwang deutlich, bei dem die Lust verlorengeht. Hin und wieder obsiegt das Glück, sich selbst zu gehören, über die Langeweile, nicht sein eigener Herr zu sein.

Hier fängt das Umherirren des Neuen an, vielleicht sogar seine Verirrungen. Außerhalb des wissenschaftlichen Sezierens, das es dem aufgeklärten, getrennten Denken in Einzelteilen vorsetzt, ist das Leben auf der Erde und im Körper so schlecht bekannt, daß Hellsichtigkeit und Albernheit Gefahr laufen, sich noch eine Zeitlang im Herumtasten der Entdeckung und in den Unruhen einer anderen Wirklichkeit zu verwickeln. Was liegt daran! Wir wollen Geheimnisse, die keine Abscheulichkeiten enthalten:


Die Demokratie

Nichts bürgt sicherer für die Demokratie und die den Menschenrechten zugrundeliegenden Prinzipien als die dem Weltmarkt innewohnende Notwendigkeit, irgendwem irgendetwas zu verkaufen. Daraus folgt, daß die Werte der Vergangenheit im Takt veralteter Waren verschrottet werden, auch wenn ihre archaischen Überbleibsel zur Verarbeitung eines vergänglichen Modernismus verwendet werden.


Die Subversion

So verbreitet die Ökonomie besser und schneller als eine Horde spezialisierter Aufwiegler die Subversion. Es genügt, einen Blick auf die spektakulären Auslagen zu werfen, in denen die Gesellschaft die Modelle ihrer Ehrbarkeit und Niedertracht zur Schau stellt. Dort stehen fast nur noch verblaßte Exemplare von Königen, Priestern, Päpsten, Polizisten, Militärs, Adligen zweifelhafter Herkunft, Bourgeois, Bürokraten, Proletariern, Reichen und Notleidenden, Ausbeutern und Ausgebeuteten ... herum. Es fällt einem schwer zu glauben, daß noch vor kurzem glühende Gefühle des Hasses und der Bewunderung um solch groteske Affen herum entstanden sind. Niemals ist eine Epoche dermaßen zu Preisen ausverkauft worden, die jeder Konkurrenz spotten.


Die Hellsichtigkeit

In den 60er Jahren war noch eine Spur von Intelligenz nötig, um den gesellschaftlichen Kontext zu entziffern. Noch brauchte man Hellsichtigkeit, um die Zeichen des Bankrotts wahrzunehmen. Dreißig Jahre später erfaßt man beim ersten Blick von einem Ende des Erdballs zum anderen die verfallene Bühne, das abgenutzte Spektakel, die lächerlich gewordene Macht, die ausgefransten Rollen einer zusammengeflickten, knauserigen Ökonomie. Ungeniertheit und Langeweile lassen den Vorhang über eine tausendjährige Tragikomödie fallen.

Die Ökonomie hat das Reich gegründet und zerstört, das die Menschen gleichzeitig mit dem eigenen Untergang aufgebaut haben. Jeder verläßt den Umkleideraum ohne brauchbare Verkleidung. Es bleibt nur noch, vor sich und am besten zu sich hinzugehen, ohne andere Richtschnur als die in jedem Augenblick aufblitzende Lust.


Die Funktionen

Die Vielfalt ihrer Gesellschaftsformen beruht auf einigen Funktionen, die so offensichtlich allen gemeinsam sind, daß sie der menschlichen Natur zugeschrieben wurden. Heute noch findet man kluge Köpfe, die behaupten, die Verlockung des Geldes, der Machthunger, der Hang zur Zerstörung und Selbstzerstörung seien ebenso wie die Schaffenskraft Bestandteile des Menschen. Noch vor kurzem war dies eine einträgliche Meinung; seit der gemeinsamen Abwertung der materiellen und geistigen Werte hat sie aber viel an zinsbringendem Interesse eingebüßt.

Nicht wegen der Natur, sondern wegen der Denaturierung hat sich das Gewicht des Unmenschlichen in der menschlichen Gesellschaft durchgesetzt. Die Wiederholungsmechanismen der Hand- und Kopfarbeit, des Tausches durch Angebot und Nachfrage, der Verdrängung und der Abreaktion der Begierden sind mitten ins Herz des Lebenden eingedrungen und haben jene Bewegungen, durch welche die Ökonomie sich der Menschen und ihrer Umwelt bemächtigt, tief in die Gesten, die Gedanken und die Emotionen eingegraben.

Die Expansion der Ware hat die Entfaltung des Lebens unterdrückt. Sie hat ihr keinen anderen Weg als ein Gespaltensein gelassen, in dem das, was nicht eigentlich gelebt wird, abstrakt und mittels Rollen gelebt wird; diese sind der Tribut, den das Menschliche an die unmenschlichen ökonomischen Funktionen entrichten muß.


Die Rollen

Der Lernprozeß der Kinder lenkt den Drang der Begierden. Weit davon entfernt, sie durch einen Versuch der Harmonisierung zu verfeinern, in dem die Gefühlsbeziehungen ausschlaggebend wären, schneidet er aus ihnen eckige, stereotype Rollen zurecht, Verhaltensweisen, die den Gesetzen des Tausches, der Ausbeutung und der Konkurrenz unterworfen sind. Die Erziehung reißt das Kind aus seinen Lüsten, um es in eine Reihe von Gußformen hineinzupressen, in denen es zur bloßen Repräsentation seiner selbst wird.

Es gab eine Zeit, in der die Farben und die Lebhaftigkeit der Rollen ein Ausgleich waren für die verbotenen Triebe des Körpers, in der die Gewalt der Ausschweifungen eine Art Befriedigung in der Gier, der Autorität und dem mit ihnen verbundenen Ansehen entdeckte.

Ob man als Freiherr oder Leibeigener auf die Welt kam, ob man Kaiser oder Müllmann wurde, zu den höchsten Würden oder zum Schafott aufstieg - das war nach der Meinung jener Zeit Teil der Geschichte und des Schicksals, keineswegs einer siegessicheren Logik, die sich durch Ein- und Ausschluß weiterentwickelt, das Rentable rettet und den Verdienstausfall verdammt. Gewiß eine Fatalität, aber eine wohlüberlegte und berechnete - die Bestimmung einer Praxis, die weder Göttliches noch Himmlisches an sich hatte.

Denen, die ein in Sünden, Gewissensbissen, Ängsten und Schuldgefühlen eingezwängtes Leben führten, erlaubte das gesellschafiliche Spektakel, im Gepränge und im Schlamm des Ruhms oder der Marter zu glänzen. Ein Heiliger, ein Gelehrter, ein Wüstling, ein Verbrecher, ein interessanter Mensch war man aus Verdruß darüber, für sich allein nichts zu sein. Eine Sammlung frommer Bilder hielt die Berufung zur Nichtigkeit aufrecht.

Das Leben ist heute kaum reicher geworden, aber die Rollen sind zu Eintönigkeit und Armut entartet. Wer würde fortan dem Trommelschlag des militärischen, religiösen, patriotischen oder revolutionären Ruhmes Folge leisten? Wer würde, um "Eindruck zu schinden", die Charakteruniform anziehen, deren Funktion es ist, die Aufmerksamkeit zu fesseln, sein Ansehen zur Geltung zu bringen, die Herde zu führen?

Allmählich hat sich der Gedanke durchgesetzt, daß die Rollen, ob sie nun gut oder schlecht gespielt werden, aus einem bedingten Reflex, aus einem Speichelfluß herkommen, der bei jedem Klingelzeichen entsteht. Eine solche Gewohnheit geht verloren, seitdem das Kind nicht mehr mit einem Hund und der Hund nicht mehr mit einer Maschine gleichgesetzt wird, und die Maschine, selbst ein Muster der Warenperfektion, aufgehört hat, ein Muster menschlicher Perfektion zu sein.


Das Ende der Funktionen und der Rollen

Jahrtausendelang haben sie wie besessen gerungen, um Wesen und Dinge in eine bestimmte Ordnung zu bringen und mit einem Etikett zu versehen. Sie suchten von oben nach unten, von links nach rechts den Platz des Menschen im göttlichen Plan und haben eigentlich nur die Stelle entdeckt, die auf jeder Stufe des Warenprozesses dem Produkt und dem Produzenten zugedacht war.

Wie sehr sie auch durch die Grundmechanismen des Systems konditioniert gewesen sein mögen - Umwandlung der Lebenskraft in Arbeitskraft, mühselige Teilung in Geist und Körper, Tausch und Konkurrenzkampf um die Kontrolle der Märkte - sind sie dennoch niemals reine Produkte der Ökonomie gewesen, die sie beherrschte. Sie bewahrten die in ihnen tief verwurzelte Gnade eines nicht auf die Warenlogik und -ordnung reduzierbaren Lebensgefühls, die sie in flüchtigen Augenblicken der Liebe, der Großzügigkeit und des Schaffens genossen, in denen sie von einem plötzlichen Abscheu gegen die permanente Berechnung der gewöhnlichen Existenz ergriffen wurden.

Obwohl die Rollen, dank denen sie sich auf der gesellschaftlichen Bühne halten konnten, auf die Lernprozeß und Initiation sie geworfen hatten, oft über ihr Überleben oder ihren Tod entschieden, ist es doch vorgekommen, daß sie sich an einer Straßenecke, in einem Salon, beim Hinausgehen aus dem Büro gefragt haben, was sie dort eigentlich zu suchen hätten. Sie entdeckten in ihrem Körper einen, der nicht länger ein anderer als sie selbst war, sie ließen das jämmerliche Possenspiel von Verdienst und Verfehlung auf sich beruhen und gaben alles auf, um nach einem Glück zu suchen, das weder dem Geld noch der Macht etwas schuldete.

Das, was gestern nur Wetterleuchten, flüchtige Umwälzung, Anfall von Verrücktheit oder Revolte war, bekommt immer häufiger die Gestalt einer vorhersehbaren Reaktion, seit der Markt der gesellschaftlichen Werte nach dem Beispiel des Devisenmarktes zusammenbricht und alle Rollen, welcher Art auch immer, abwertet. Was heißt das Gesicht verlieren, wenn die Kehrseite genauso viel Wert wie die Vorderseite hat, und wozu sollte man einer würgenden Autorität, die zur bloßen Fratze geschrumpft ist, Körper und Geist ausliefern?


Die Authentizität

Weder ist die Authentizität eine neue Wirklichkeit noch ist Kleist eine Ausnahme, wenn er behauptete, er sei nur in ihrer Gesellschaft glücklich, da er bei ihr ganz und gar echt sein dürfte. Das Neue ist die Schärfe, mit der die Authentizität die gesellschaftliche Lüge zersetzte und die typisierten Figuren verfallen läßt, mit denen jeder sich von Kind an identifizieren mußte.


Das Ende der Stars

Heutzutage genügen einige Monate, damit Ruf und Verruf der Stars zu- oder abnehmen, egal ob ihr Ansehen mit der Kunst, der Politik, dem Verbrechen oder dem mondänen Leben verbunden ist. Noch vor kurzem waren mehrere Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte dazu nötig. Kaum ist er aufgeflammt, erlischt heute der Ruhm.

Zu der Zeit, als das Ansehen sich lange hielt, nahm die Öffentlichkeit das Glänzen eines Namens wahr, ohne sich um die Beleuchtung und den technischen Aufwand zu kümmern. Die vielen dunklen Lebensläufe gaben einer kleinen Anzahl von Leuten Glanz, die sich andernfalls nicht durch ihre besonderen Fähigkeiten hervorgetan hätten. Die Prachtentfaltung eines Monarchen, das Redetalent eines Führers, die Beliebtheit eines Autors stellten die Kunstgriffe einer Inszenierung in den Schatten, die dem kleinen Menschen der Macht eine künstliche Größe verlieh.


Die Medieninflation

Ich behaupte nicht, die Begabung aufzutreten sei verlorengegangen. Es gibt in unseren Tagen ausgezeichnete Könner in der Kunst, das Volk zu betrügen, aber weniger Volk, das sich hintergehen läßt, und weniger Mittel, um große Verführungen durchzusetzen. Denn trotz der beunruhigenden Faszination der Bilder beißt sich die Lüge nicht länger mit gleicher Schärfe ein. Auge, Ohr, Geschmacks- und Tastsinn, Denken gleiten über eine Fülle von Klischees ohne Qualität hinweg, die ungeeignet sind, sie lange festzuhalten.

Der Überproduktion unnützer Güter - welche die Panik der Ware und deren Krebsbildungsprozeß kennzeichnet - entspricht ein Wust von Informationen, der die Verdauung entmutigt, den Konsumenten anekelt und das Interesse erschöpft. Da wird der Appetit, der eine unverdauliche Fadheit ablehnt, für einen anderen, kräftigeren Hunger wach.

Während die Enthirnungsmaschine, deren Schaltungen durch die rasende Beschleunigung des Spektakels blockiert werden, langsam implodiert, lebt ihre schädliche Wirkung auf dem paradoxen Umweg über diejenigen fort, die sie bekämpfen. Die Angst, die sie bei Leuten aufrechterhält, deren kritischer Verstand allzuoft als Beschwörung und Rechtfertigung für die eigene Furcht vor dem Genuß dient, läßt den Koloß größer erscheinen und unterschätzt die Zerbrechlichkeit seiner tönernen Füße. Von der bedrängenden Dummheit verfolgt, setzen sie ihre ganze Klugheit ein, um deren Schläge genauso dumm abzufangen. Ihr Spott bedeckt den hoffnungslos nackten König mit einem letzten Kleid aus Lügen. Damit wird, besser als durch die Medienmacher von Abstraktionen, Ideologien, Illusionen und religiösen und mystischen Eruktationen, jenem Haufen veralteter Werte Gewicht verliehen, auf die der Zusammenbruch der Warenzivilisation sich reduzieren läßt, wohingegen die überall zum Vorschein kommende Heftigkeit des Lebensdrangs von ihnen als Belanglosigkeit abgetan wird.


Die Dualität der Rollen

Das Spektakel muß die Schrumpfung des sozialen Marktes hinnehmen, auf dem die Rollen zu einem von der Macht festgesetzten Preis verramscht werden. Bei den Hanswurstiaden in den Parlamenten, den Gerichtssälen, den Konzilen oder den Staatsräten weckt nur noch das, was sich hinter den Kulissen abspielt, die Neugier.

Wie kann man nur eine einzige Rolle ernst nehmen, wenn sie paarweise vor einem stehen, so aufgestellt, daß sie sich gegenseitig zur Geltung bringen, und als auswechselbare Wahrheiten zusammen verkauft werden - gut und schlecht, glanzvoll und schäbig, weich und hart, Richter und Schuldiger, Polizist und Mörder, Staatsterrorist und Privatterrorist, Priester und Philosoph, Reaktionär und Fortschrittler, Ausbeuter und Ausgebeuteter?


Der Lebensstil

Der Blick des Lebens nimmt wieder die Farbe der Ewigkeit auf, wenn er plötzlich in Raum und Zeit das A und O des Todes betrachtet: die Sintflut der Warenexpansion, die von einem Ozean übler Geschäftemacherei in den Abgrund gerissene Erde, die Strudel, in denen Generationen genauso schnell aufeinanderfolgen, dahintreiben und untergehen, wie ein Stück Geld verdient und wieder ausgegeben wird. Der ständigen Katastrophe der Geschichte konnten nur einige wenige Gipfel standhalten, auf welche die nicht reduzierbaren Fermente des Menschlichen, die die Qualität des Seins in sich tragen - Kindheit, Liebe und Schöpfungskraft - geflüchtet sind.

Der Zyklus der unaufhörlichen Apokalypsen kommt mit dem Ende der Ökonomie zum Abschluß. Das Rad des Glücks und des Unglücks, das sich von einem Jahrhundert zum anderen immer in derselben Furche von Kriegen, Krankheiten, Armut, Leid und vom bitteren kommenden Tag drehte, zerbricht. Diejenigen, die meinen, die Welt würde zusammen mit dem Rad zerbrechen, haben vielleicht recht, aber dieses Recht wird ihnen von der großen Müdigkeit diktiert, die sie in die Partei des Todes treibt.

Für denjenigen, der sich über das Verschwinden der Fahnen, der geistigen Vorbilder und der vorgegebenen Rollen freut, ist jetzt die Zeit der Authentizität und eines Lebensstils gekommen, bei dem die Menschen wieder zu sich selbst, zu ihrem ersehnten Lebensgenuß kommen.

Auf die Gewalt der Ablehnung folgt ein dolce stil nuovo, um in den Willen zum Leben eine zähe Energie zu investieren - nicht mehr diejenige der Hoffnungslosigkeit und der Unbefriedigtheit, sondern diejenige des Genusses und der Unersättlichkeit. Langsam gibt er die Verhaltensweisen der Charakterstörungen,

die mechanischen Gesten, die neurotische Unwissenheit und die aggressive Bitterkeit auf, die die Unterwerfung des Lebens unter die Ökonomie kennzeichnen. Er entfernt sich so weit wie möglich von den Gewöhnungen, in denen der Tausch über das Geschenk siegt, die Macht über die Zuneigung, die Abreaktion über die Verfeinerung der Lüste, das Schuldgefühl über das Gefühl der Unschuld und die Strafe über die Richtigstellung der Fehler. Und wenn der neue Lebensstil diese Verhaltensweisen für archaisch hält, verwirft er sie aber nicht im Namen eines getrennten Denkens, einer intellektuellen Voreingenommenheit oder einer Moral, da er auf diese Weise keineswegs mit ihnen fertig werden, sondern nur ihre Brut fortpflanzen würde. Er weist sie von sich, weil sie ihn langweilen und seine Lust stören, weil es ganz einfach Besseres zu erleben gibt.


Das Leben soll gespielt und nicht repräsentiert werden

Die Entwicklung des Kindes bringt ständig neue Gewißheiten, weil sie die Wurzel einer Menschheit ist, die sich aus der Animalität löst und noch nicht der Herrschaft des Unmenschlichen unterliegt.

Auf der Schwelle einer Schule, in der es immer schwieriger wird, das vom Leben getrennte Denken zu lehren, wächst das Zögern des Kindes weiter. Es drückt die Weigerung aus, eine Laufbahn einzuschlagen, die aus seinen Vorfahren kränkliche, von verwachsenen Begierden gepeinigte und vom alltäglichen Tod geschundene Wesen gemacht hat, die in einer Parodie des Glücks ihre letzte Rolle spielen.

Die Haltung des Kindes gegenüber den Rollen entsteht nicht aus der von den Erwachsenen geübten Kritik, die über das Negative so gut aufgeklärt sind, daß sie davon nicht loskommen. Es ist in der Tat leicht, diejenigen zu verspotten, die es einem Gott, einem Potentaten, einem Parlamentarier oder einem Gewerkschaftsfunktionär überlassen, für ihr Glück zu sorgen, aber sind die Spötter eigentlich durch sich selbst besser vertreten? Drückt das Bild, das sie mit größter Mühe von sich selbst geben, nicht die Verleugnung der eigenen Authentizität aus? Enthält es nicht im Keim die allgemeine Lüge des Repräsentativ- und Wahlsystems? Und ist es eigentlich nicht so, daß sie durchaus einen gewissen Einfluß auf ihre Umgebung erstreben, um diese aufzufordern, sie zu wählen?

Die Kinder erliegen einer solchen Falle erst spät. Wie ein Spiel verstehen sie zunächst die Rollen, die die Erwachsenen mit unerschütterlichem Ernst auf sich nehmen. Sie finden gleiches Vergnügen daran, sich mit dem Polizisten oder mit dem Räuber zu identifizieren. Gänzlich ungezwungen wechseln sie vom Richter zum Schuldigen, vom Arzt zum Kranken, vom Starken zum Schwachen, vom Herrn zum Sklaven, vom Guten zum Bösen. Das Verwandlungs- und Verkleidungsspiel, sogar das Spiel des angeblich verlogenen Fabulierens gehören einem symbiotischen Terrain an, auf dem Menschen und Dinge durch die Bewegung eines gemeinsamen Lebens miteinander verbunden werden.

Je mehr das Spiel erstarrt und die Gesten im mechanischen Ballett des Geldes und des sozialen Aufstiegs verkümmern, desto dringender wird das Kind aufgefordert, sich ein Image auszudenken und unter einen Firmennamen zu schlüpfen. So ziehen sich die vergnüglichen Verwandlungen in die Wirklichkeit von Traumbildern zurück, und der Jugendliche, der über die Wahl und die Orientierung, die ihm durch die Forderungen der Ökonomie aufgezwungen werden, Bescheid weiß, bewahrt den Eindruck im Herzen, er habe die falsche Tür geöffnet und alle anderen wären vorzuziehen gewesen.

Der Zwang und die Langeweile, sich zugleich als interessant und interessiert zur Schau zu stellen - wie die Schüler sagen: "Alles nur Mache!" -, enthüllen heute ihre endgültige Nutzlosigkeit im Bankrott des gesellschaftlichen Marktes und seiner traditionellen Werte. Erneut identifiziert sich die Rückkehr zur Kindheit mit der Versuchung, in der Vielheit der Begierden und der Einheit des Lebens, in den menschlichen Verwandlungen der neuerschaffenen Natur wieder zu sich selbst zu kommen.


Es gibt keinen Bereich, in dem die Autorität nicht verfällt und das Ende aller Mächte ankündigt, die aus der Ausbeutung der Natur hervorgegangen sind.

DAS ENDE DER HIERARCHISCHEN MACHT

Der Unglaube hat die Priester der Ehrfurcht und der Macht beraubt, die ihnen durch ihr Amt verliehen wurde. Von nun an gehört Gott zur archäologischen Ausgrabung und das gelegentliche Gezeter an dieser Stätte wird am Bankrott (endlich!) des religiösen Unternehmens nichts ändern können.

In einigen giftigen Gegenden der Dritten Welt vegetieren die letzten Tyrannen. Allmählich begräbt ein allgemeiner Verruf die militärischen Diktaturen unter dem Misthaufen der Vergangenheit; besser als der bissigste Antimilitarismus läßt er die Uniform der Armeen aller Kontinente und aller Parteien einen muffigen Todesgestank ausdünsten.

Nichts ist tröstlicher als zu hören, wie die Mülleimer der Geschichte über der Herrschaft der lebendigen Götter, der Retter des Volkes, der von der Vorsehung gesandten Berühmtheiten und der charismatischen Auserwählten zuklappen. Dem 20. Jahrhundert muß Dank gesagt werden, daß es die eiserne Hand ausgerenkt hat, die so lange das Proletariat, die Frau, das Kind, den Körper; das Tier und die Natur in Abhängigkeit gehalten hat. Eine glückliche Zeit, in der die Staats- und Familienoberhäupter, die Cliquen-, Gruppen- und Unternehmensleiter wie welkes Laub von ihrem Prestige abfallen und im Sog der Lächerlichkeit umherwirbeln, bis sie sich in der allgemeinen Gleichgültigkeit verlieren!

Der Wille zur Macht ernährt nur noch zahnlose Raubtiere, da er ihnen nichts Festes mehr zum Beißen anbieten kann. Zwar wirft die Epoche weiterhin ihre Ladung autoritärer Figuren auf den Markt, aber mehr aus Stumpfheit als aus Überzeugung. Die in ihrem Gefühlsleben Beschädigten mögen sich noch so sehr unter dem Gütezeichen des feurigen Blicks, des stählernen Charakters und der männlichen Kinnlade zur Schau stellen, die Umgebung macht ihr Saatgut der Bitterkeit, der Aggressivität und des Todes unfruchtbar. Da stehen sie nun und sind der Gründe beraubt, auf denen ihr Recht und ihre Hoffnung geruht haben - das Versprechen eines starken Staates, eines Finanzimperiums, einer nationalen oder proletarischen Revolution. Von nun an wird ihnen die Bürgschaft für den Erfolg verweigert.

In wessen Namen wollen sie jetzt regieren, da die Ökonomie sie wie Bauern auf dem Schachbrett regiert? Nachdem Könige, Königinnen, Türme und Springer auf dem Brett der alten Welt verloren gegangen sind, bleibt nur noch das Fußvolk übrig, um von einem Feld ins nächste zu springen. Werden sie ein Spiel weiterspielen, das sie nicht mehr lenken, und zu welchem Sieg? Etwa um die Geschäfte, den Staat, das Geld, das Vertrauen wiederherzustellen? Ach was! Die Dinge sind so weit gediehen, daß die Feder der Lüge zerbricht, sobald sie aufgezogen wird.

Die Männer der Macht haben jenen Roßtäuscherglauben verloren, der die Königreiche und die Republiken gemacht hat. Hätten sie nur das alte Vertrauen in den Handlungsreisenden behalten, der von Tür zu Tür ging, um seine Handfeger zu verkaufen, dann hätten sie auch genug abgefeimte Phantasie bewahrt, um den Erhängten abzuhängen und ihm einen neuen Strick zu verkaufen. Aber nein! Sie kommen kaum auf die Idee, von den Alarmsirenen zu profitieren, die auf die Gefährdung der Erde hinweisen. Sie denken nicht daran, die wankenden Monopole der traditionellen Industrie zu untergraben, in die Ökologie zu investieren, die gesundheitsschädlichen Betriebe niederzureißen, das schön abzubauen, was häßlich aufgebaut wurde, zu entgiften und zu entnuklearisieren, die sanften Energien dienstbar zu machen, kleine regionale Produktionseinheiten auf internationaler Ebene zusammenzuschließen, rentable Selbstverwaltungsformen zu propagieren - kurz, gemäß der Konstante ihrer Geschichte zu handeln: d.h. der ökonomischen Umsetzung der revolutionären Ideen. Es sieht übrigens so aus als ob der geistige Zustand der Geschäftsleute unter der fallenden Tendenz ihrer Machtquote leiden würde. Haben sie es vielleicht wie ein persönliches Trauma empfunden, daß der Waffenhandel unter dem schrittweisen Aussterben der lokalen Kriege leidet? Immerhin - sie haben nichts Besseres gefunden, um den Gesetzen der Konkurrenz zu gehorchen, als auf dem Kampfplatz der Börse miteinander zu rivalisieren. Dort zu schwarzen und weißen Rittern geschlagen, parodieren sie Turniere, Überfälle und Plünderungen. Es ist ein wunderliches Schauspiel zu sehen, wie ein Geschlecht von besessenen Finanzleuten Zahlenreihen und Bündel von Scheinen von einem Ende des Aktionärstisches zum anderen schiebt, während ganze Sektoren der Industrie und der Landwirtschaft zugrundegerichtet werden.

In seinem höchsten Stadium fällt der Kapitalismus in die Kindheit zurück: eine Kindheit, aus der das Leben herausgerissen wurde, was man gewöhnlich Verkalkung nennt. In der gleichen Zeit, in der ihre Mechanismen im Bewußtsein des individuellen Körpers auftreten, erreicht die Ökonomie den Punkt ihrer reinen Abstraktion. Ihr Verblassen geht so weit, daß sie sich der eigenen Substanz entleert: der Fabriken und der Märkte als ihrer materiellen Form. Welcher Wille zur Macht könnte gegen eine solche Muskelerschlaffung ankommen?


Die fallende Kurve der ökonomischen Offensive

Überall hat die Wut, sich einen Knochen anzueignen, um ihn entweder abzunagen oder weiterzuverkaufen, den Willen zur Macht genährt. Auch der schwächste Mensch beteuerte, er habe ein Stück Brot, eine Frau, einen Hund, eine Art Ansehen in Besitz genommen. Ein solcher Zug konnte der Natur des Menschen nur zugeschrieben werden, indem man sie mit einem Charakterpanzer versah. Heute ist der Taschenspielertrick um so offenkundiger, als es auf der Erde, nachdem die Ware fast alles erobert hat, nur noch die Redundanz einer Ökonomie ohne Gebrauch gibt und ein Leben, das den menschlichen Gebrauch seiner Natur entdeckt. Es gibt keinen Kontinent, auf dem die Ware nicht ihre Modernität vorantreibt. Der Konsumzwang verbreitet die Demokratie mit derselben Schnelligkeit wie die Marktforschungen, und der Friede des Tauschhandels läßt das Gespenst der Kriege und sogar des sozialen Krieges, mindestens in seiner archaischen Form, nach und nach verschwinden. Der Konflikt, der die ausgebeutete und die ausbeutende Klasse Jahrhunderte hindurch gegeneinander geführt hat, leidet jeden Tag mehr unter den Auswirkungen der Entwertung der Macht. Unterdrückung und Forderung erlahmen in der nostalgischen Parodie einstiger Kämpfe.

Sogar die alte Vorherrschaft des Geistes über den Körper lockert ihren Griff. Hat der technokratische Markt es nicht unternommen, indem er den Verkauf des Computers fördert, aus dem Werkzeug ein Gehirn und aus dem Gehirn ein Werkzeug zu machen? So führt die Kybernetik das Programm aus, das durch die Logik der

Ware für den Menschen vorbereitet wurde: ein Körper und ein Geist, in einer Maschine egalitär vereinigt.

Wer gerät in Ekstase über das Wunder des in den Dienst der Ökonomie gestellten menschlichen Genies: ein Körper aus Muskeln ohne libidinöse Energie, und ein Denken, das Millionen von Kenntnissen verschlingt, die es nur mittels einer binären Logik bearbeiten kann - das heißt, mittels einer der Ratte unterlegenen Intelligenz? Das Wunder liegt anderswo.


Die Herrschaft des Tauschwertes

Der Computer als Aushängeschild für den Wohltätigkeitsladen, in dem der Mensch zur reinen Abstraktion tendiert - da haben wir also eine Welt, in der der Gebrauchswert von einem nutzlosen technischen Kleingerät zum andern abnimmt, in der die wirklich nützlichen Güter zusammen mit den Kühen, den Schnecken, den Pilzen und den Wäldern verschwinden und die Rohstoffindustrien im Namen der internationalen Rentabilität zerschlagen werden.

Dagegen tendiert der Tauschwert zum Absoluten. Der Profit und sein verächtliches Unwissen um den Menschen und die Natur bestimmen das Schicksal der Erde. Eine rasende Intellektualisierung reduziert den Abstand zwischen Hand- und Kopfarbeit. Dabei gewinnt nicht die Intelligenz des Lebenden, sondern die Undifferenziertheit von Menschen und Gesten, die täglich dem Reflex einer zur Erzeugung des Nichts programmierten Arbeit unterworfen sind; damit wird die Übereinstimmung nicht mit dem, was lebt, sondern mit einer Gesellschaft garantiert, in der alles, was sich bewegt, mechanisch und in Börsenwerten quantifizierbar ist. Soweit die Warenperspektive. Die hierarchische Pyramide mag noch so sehr zusammensacken und die Macht zerbröckeln, das Gefühl, daß auf dieser Welt der Mensch zum Objekt erstarrt, wird weiter diejenigen passiv in den Tod treiben, die nicht sehen, wie stark eine neue Gewalt unter den verfaulenden herkömmlichen Kämpfen schwelt; wie stark der Antagonismus zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem die Kräfte zermürbt hat, da er heute einen beiden Parteien gemeinsamen Nenner an den Tag bringt: die lukrative Ausbeutung des Lebens.

Der entfesselte Wille zum Leben wird im Verhältnis zur aufständischen Wut dasselbe sein wie heute die Überschwenglichkeit des Kindes zum Stampfen des Greises ...


Die Organisation

Niemals verfügte die Macht über so große Mittel, um ihre Herrschaft aufzuzwingen, und niemals ist ihr so wenig Stärke übriggeblieben, um sie anzuwenden.

Die Politik der Götter war unergründlich. Die ideologische Inbrunst fegte alle Zweifel und Bedenken hinweg. Es mußte dazu kommen, daß die Forderungen des Marktes die bürokratische Tyrannei als letztes Überbleibsel der Agrarstruktur unter der unwiderruflichen Anklage der "ungenügenden Rentabilität" verurteilten, damit nichts die abschaltbaren Kreise der informatisierten Ökonomie mehr verbirgt.

Sicherlich hatte bereits die sowjetische Bürokratie die Absurdität von Plänen greifbar gemacht, die genauso perfekt auf dem Papier ausgearbeitet wie völlig unbrauchbar waren. Der Zusammenbruch des bürokratischen Glacis führt den Beweis dessen konkret zu Ende, was die hierarchische Macht immer gewesen ist: ein Versuch, das Lebende zu organisieren, indem man es seiner Substanz zum Profit der Ökonomie entleert.

Der Abstand, der den himmlischen Geist von der irdischen Materie trennte, liegt heute zwischen der Faust, die sich um die notwendige Arbeit schließt, und der Hand, die sich der Lust zu lieben und zu schaffen öffnet.


Die Verwaltung des Bankrotts

Worauf beschränken sich nun die letzten, tatsächlich vorhandenen, wenn auch nicht wirksamen Formen der Macht? Auf die Wissenschaft des Managements. Nur sie ist in unmittelbarem Kontakt mit der Ökonomie, seitdem diese sich ihres politischen Ungeziefers - Könige, Kirchenfürsten, Staatsoberhäupter und Parteiführer - entledigt und die sichtbaren Schaltungen ihres Großcomputers auf dem ganzen Erdball verbreitet hat.

Welches ist die am meisten geschätzte Qualität bei den Politikern, jetzt, da sie zu Gepäckträgern der Geschäftsleute geworden sind? Was verschafft ihnen die größte Geltung bei den Wählern? Die persönliche Ausstrahlung? Die Kompromißlosigkeit? Die eiserne Faust? Die Verführungskraft? Die Intelligenz? Nicht im geringsten! Das einzige, was zählt, ist ihr Sinn für Verwaltung.

Eine schöne Logik! Die Epoche verlangt umso eifriger nach guten Verwaltern, als es nur noch Konkurse zu verwalten gibt.

Vor dreißig Jahren riefen die Revolutionäre, die den Kopf der Bürokraten forderten, nach der Bildung neuer Organisationen, die die Anstifter der Mißwirtschaft liquidieren und den Triumph einer selbstverwalteten Ordnung herbeiführen sollten. Die Haut der Bürokraten haben sie zwar gekriegt, aber um sich selbst damit einzukleiden.

Die Mauern der bürokratischen Hochburg und der östlichen Reiche sind nicht unter dem Ansturm der revolutionären Freiheit zusammengebrochen, sondern unter dem Druck der Ware, die mit soviel Transparenz freien Durchgang verlangte, daß dieses Wort selbst als verantwortlich für die Abschaffung des eisernen Vorhangs angesehen wird.

Die Veteranen des Jahres 1968 haben wenig Verständnis für die damals zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des Überlebens gezeigt und sich dann ihre Tressen in der forschen Armee der neuen Verwalter verdient. Da der ökonomische Zusammenbruch sich ganz gut selbst verwaltet, haben sie genügend Muße, das Bestmögliche im Interesse des Volkes zu tun, indem sie im Interesse der Ökonomie handeln. Sie bringen Ordnung in die Niederlage und Würde in die wilde Flucht. Immer sind aus jungen Wölfen in kurzer Zeit recht schöne Schafe geworden.


Das Gefühl, die Ökonomie habe dem Lebenden widerrechtlich die Souveränität entrissen, verleiht dem Willen zum Leben zum erstenmal in der Geschichte das Bewußtsein, daß jetzt die eigene Souveränität geschaffen werden muß.

Die Rückkehr zum Konkreten

Der Werdegang der Ware ist jene Macht der Verhältnisse gewesen, die überall das Schicksal des Einzelnen belastet haben. Ihre Universalität hat im Körper von immerhin einzigartigen Individuen eine Reihe von Funktionen und Rollen materialisiert und aus Menschen, die überzeugt waren, gemäß dem Geist, der Kultur oder der Ideologie zu handeln, die sie selbst gewählt hatten, kaum voneinander zu unterscheidende Hampelmänner gemacht. Die Rückkehr zum Konkreten entlarvt den Betrug des abstrakten Menschen, des im Namen des Menschen aus sich selbst herausgerissenen Menschen.

Heute ist die Trennung von Erlebtem und gesellschaftlichem Markt, der ersteres zu beherrschen beansprucht, so spürbar geworden, daß sie das Engagement für jede denkbare Laufbahn sehr unsicher macht, sogar schon für die sogenannte "gesellschaftliche Verantwortung". Warum sollte ich einen Vertrag mit einer Gesellschaft eingehen, die dem Leben so entgegengesetzt ist, daß das bloße Überleben der Erde davon bedroht wird? Ist nicht jeder Gehorsam gegenüber einer Welt, die sich selbst zerstört, ein Akt der Selbstzerstörung?

Die Trümmer, die die Menschen der Ökonomie mit einer Hand zusammentragen und mit der anderen notdürftig zurechtbasteln, gehen mich nichts an, es sei denn durch den Umweg, den sie mir aufzwingen. Es ist nicht leicht zu leben, und noch weniger leicht, die Lust dazu zu bewahren diese ständige Anstrengung befreit mich von allen anderen.


Dem Aufstieg des Lebenden steht nur noch die Passivität im Wege, die diejenigen weiter knien läßt, die die Macht nicht mehr dazu zwingen kann.

Der Zerfall aller Mechanismen, die auf das Lebende geklebt sind

Die Macht hat jene erhabene und erschreckende Ausstrahlung eingebüßt, die sie so furchtbar nah und fern zugleich machte: nah durch die ständigen Erforschungen und ihre Polizeikontrolle für Länder und Köpfe; fern durch die unerreichbare Erneuerung, die niemals das Messer anhält, das die Kehle des Tyrannen durchschneidet.

Seitdem die öffentliche Meinung den Zusammenbruch der verschiedenen Autoritätsformen zur Kenntnis nimmt, wird die Mischung aus Furcht, Haß, Respekt und Verachtung, die Chorhemden, Abzeichen, Stiefel und Uniformen verbreiteten, zunächst durch Gelächter und Gespött beschworen, um sich bald darauf in eine belustigte Gleichgültigkeit aufzulösen.

Wer das Bedürfnis spürt, andere zu regieren, kann weder lieben noch geliebt werden. Das, was an Prestige gewonnen wird, geht an Liebesfähigkeit verloren. Und wie abhängig wird man von den Mechanismen der Rollen und der Funktionen! Die fixe Idee, herrschen, zwingen, siegen, unterwerfen zu müssen, macht aus dem Körper eine bloße Zentrale von Steuerhebeln. Gesten, Muskeln, Blicke und Gedanken folgen einer Pendelbewegung. Denjenigen, den man nicht ausschließen kann, muß man durch Gunstbeweise, Schmeicheleien, Kompromisse oder Bündnisse für sich gewinnen, während man jeden, der sich nicht durch Zwang, Vertrag und Verführung hat kaufen lassen, mit Anmaßung, Unverschämtheit und keinen Widerspruch duldenden Begründungen vernichtet. Ein glückliches Leben, das seine Lust und seine Würze aus einer Glanzbürste und einem Striegel zieht!

Je mehr das Mechanische das Lebende in seine Gewalt bringt, desto mehr hungert die Frustration nach aggressiven Kompensationen. Als die patriarchalische Macht und die unbestrittene Mode der autoritären Verhaltensweisen den Funktionen und Rollen mächtige Mittel verliehen, wurde jener Herrschaftswahn Charisma, Verantwortung oder Pflichtgefühl genannt, der heute in das Gebiet der Neurose und der Lächerlichkeit fällt. Denjenigen, die das Zeug zu einem Chef haben, bleibt zu wenig davon übrig, um ihre funktionelle Ohnmacht und ihre Unfähigkeit zu leben anständig einkleiden zu können.

Es ist eine bemerkenswerte Dummheit des angeblich subversiven Terrorismus, nicht verstanden zu haben, daß die Kreaturen der Macht so weit geschwächt sind, daß sie eine kräftige Stärkung durch das Interesse erhalten, das ihnen durch eine Mord- oder Verunglimpfungskampagne zuteil wird. Ein Zeichen der Zeit: damals hat Caserios Namen denjenigen des belanglosen, von ihm ins Jenseits beförderten Präsidenten in den Schatten gestellt, während heute der wenig rühmliche Aldo Moro im Gedächtnis über seinen farblosen Mörder siegt. Ob sich duckende, bissige Hunde oder Kläffer der Ordnung alle sind aus demselben Zwinger. Diejenigen, die immer noch kämpfen, um zu sterben, bekommen die Friedhöfe, die sie verdienen.

Wer entschlossen ist, seinen Begierden gemäß zu leben, entzieht sich jedem Zugriff. Er hat weder Rolle noch Funktion noch Ansehen, weder Reichtum noch Armut, weder Charakter noch Zustand, durch die er zu packen oder zu fangen wäre. Und muß er der Arbeit und dem Geld wie jeder andere Tribut zollen, dann läßt er sich nicht wirklich auf sie ein, da er sich anderswo einläßt, wo er Besseres zu tun hat.

Für den Maulhelden gibt es nichts Bedrückenderes, als plötzlich gewahr zu werden, daß er keinen Gegner hat, daß er sich allein im Ring der Konkurrenz und der Polemik herumschlägt und daß es ihm allein zusteht, sich selbst Achtung und Verachtung zu gönnen.

Der Spiegel, in dem der Machtmensch dem Publikum ein bewundernswertes Bild zu liefern wußte, ist zerbrochen. Wenn es schon einmal vorkommt, daß er sich verstohlen darin betrachtet, so sieht er nunmehr auf den ersten Blick die betrübliche Nichtigkeit so vieler Bemühungen, die gräßliche Leere eines dem Schein geopferten Lebens.

Sich niemals dorthin begeben, wo die außer Atem geratene Macht ihre letzten Befehle hinschleudert, heißt denjenigen stehen lassen, der dich erniedrigen und zermalmen wollte, Auge in Auge mit seinem schlimmsten Feind: sich selbst.

Die Kunst, sich selbst zu gehören, dringt nicht in den Raum der anderen vor; sie nimmt eine andere Ebene des Daseins ein, in der es nicht an Raum fehlt. Sie läßt den Vorkämpfern des autoritären Verhaltens die Wahl, auf die eine oder die andere Art zu verschwinden: ihre Zerstörung als lebende Wesen zu vollenden oder Rollen und Funktionen zu zerstören, um mit dem Leben anzufangen.


Schluß mit dem Triumphgeschrei und dem Wettkampf

Sich jeden Augenblick Zeit nehmen, um zu spüren, daß man lebt, heißt, von den miteinander verbundenen Rechten und Pflichten des Gehorchens und des Befehlens befreit sein. Wer es lernt, jedes alltägliche Vergnügen, wie gering es auch sein mag, zu ergreifen, der schafft sich nach und nach einen Lebensraum, in dem er rückhaltlos sich selbst gehören und vorbehaltlos wahr sein kann; dort wird die Ausübung des Begehrens zu einer solchen Leidenschaft, daß das lästige Dazwischentreten einer Sache oder Person sofort an Gewicht, Wichtigkeit und Sinn verliert.

Das Gefühl der Fülle ist kein Zustand, sondern ein Werden, kein Betrachten, sondern ein Schaffen. Das Spiel von Begehren und Genuß setzt eine Perspektive voraus, in der die Kriterien der Warenwelt und deren zwingende Gründe nicht in Betracht kommen. Es gibt da eine undeutliche Grenze, die durch ein sinnliches Wissen an gewissen Zeichen erkennbar sein sollte. Als einziges Beispiel möchte ich die Unschuld der glücklichen Kindheit anführen, die das Gesicht der Liebenden im Augenblick der Liebe erleuchtet, wohingegen die Autoritätsanfälle, denen sie erliegen, ihren Zügen die schmerzhafte Verkrampfung des Kindes einprägen, das in seinem Bedürfnis nach Zärtlichkeit frustriert wird und sich durch das Gezeter seiner tyrannischen Launen rächt.

Glücklich sein heißt auch, sich nicht darum kümmern, es mehr oder weniger als ein anderer zu sein, noch darum, den Beweis zu erbringen oder das Geständnis abzulegen, man sei es tatsächlich. Das Glück wird schal, sobald es sich Geltung verschaffen muß. Man braucht dem Gebot "Nur im Verborgenen lebt es sich gut" nur den verängstigten Kleinmut wegzunehmen, der seine treibende Kraft ist, um seine tiefere Bedeutung zu finden: Nur zu seinem Nachteil stellt sich der Genuß zur Schau und das Glück schlägt in sein Gegenteil um, sobald die Überheblichkeit sich seiner bemächtigt. Die Eitelkeit ist eine Authentizität, die sich gurgelnd entleert. Nicht das Lebende, nur dessen abgestorbene Hülle widmet sich dem Ruhm. Die Lust, die sich nicht kostenlos anbietet, ist eine Ware aus dem Supermarkt.

Sich lieben, heißt nicht, sich bewundern. Ich habe weder mit einer Waage, die Werte vergleicht, etwas zu tun, noch mit den Mechanismen der Konkurrenz, wo die Beziehungen zwischen den Menschen vom Handel mit den Dingen beherrscht werden.

Wie kann man Vergnügen daran finden, sich selbst zu gehören, wenn man jeden Augenblick aufs Podest klettern und sich daran festklammern muß, um nicht hinuntergeworfen zu werden?

Die Lächerlichkeit, in die der Geist des Wettbewerbs durch die regelmäßige Schrumpfung der Märkte hineingezogen wird, macht das Leitmotiv der herkömmlichen Erziehung - "Der Beste soll gewinnen!" - nur noch unsinniger und widerwärtigen Siege braucht das Kind weder über sich selbst noch über die anderen: Es sind doch nur Niederlagen, die seiner Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden schmerzlich beigebracht werden, sie flößen ihm Angst ein zu genießen, da der Genuß in einer Gesellschaft, in der alles gewogen, gekauft, geliehen, zurückgegeben und bezahlt werden muß, durch seine natürliche Kostenlosigkeit eine Schwäche und eine Schuld ist. Wie eine tüchtige Frau einmal sagte: "Man darf keine Liebe machen, wenn man Geschäfte macht - sonst verliert man die Kampflust."


Angst und Aggressivität nehmen mit dem Preis ab, den die Gesellschaft für Verbote und deren Überschreitung festsetzt.

DAS ENDE DES RICHTERS UND DES SCHULDIGEN

Durch den Freihandel werden die alten Schutzwälle der Agrarstruktur vollends niedergerissen und jede Bresche bringt eine neue Idee der Öffnung und der Freiheit in Mode.

Die archaischen Gesellschaften umgaben ihre Felder, ihre Güter, ihre Städte, ihre Nationen mit schützenden und zugleich unterdrückenden Mauern. Die moderne Warengesellschaft hat es unternommen, sie zu schleifen.

Die Städte haben ihre Ringmauern verloren und die Grenzen verblassen langsam. Sind also nun die letzten blutigen Seiten des Epos der Ware umgeschlagen?

Der erste Weltkrieg und das Wiederaufflammen seiner schlecht gelöschten Glut im Jahre 1940 scheinen das letzte Toben des Protektionismus zu kennzeichnen, dieses Rückschritts des Handelsgeistes zur Agrarmentalität.

Der turbulente Übergang vom Privat- zum Staatskapitalismus hat den Aufbau und den Zusammenbruch der totalitären Festungen des Nationalsozialismus und des Bolschewismus erlebt.

Die heutigen Straßen, wie sehr sie immer noch mit Illusionen vernebelt sein mögen, durchziehen Europa in größerer Freiheit. Eine gebührend anerkannte Nachlässigkeit verspottet die alten Verbote und die nach altem Brauch gegen sie verstoßende Gewalt.


Der Friede des Tausches

Ein immer weitgehender gemeinsamer und allgemeiner Markt rühmt die Freiheiten eines Handels, der keine Richtung und keinen Gegenstand ausschließt und sozusagen den Meinungen und dem Gewissen der Menschen seine Aufgeschlossenheit verleiht. Ein Friede des Tausches erfüllt allmählich die gesellschaftlichen und internationalen Beziehungen, beseitigt wie es gerade kommt die Zusammenstöße zwischen den Völkern und die Revolutionen nach altem Muster, indem er den Fisch der Revolte im Wasserglas des Palavers ertränkt.

Alles schwimmt in einer scheinbaren Verbindung von sich derart auflösenden Interessen, daß sie sogar den Gedanken entmutigen, man könne noch um ihre Verteidigung oder ihre Forderung kämpfen.

Das, was sich eigentlich in dieser hochindustrialisierten Gemeinschaft verkörpert, in der das Waffengetöse vor dem Dialog und der chauvinistische Arschwisch vor der hygienischen Fahne des Roten Kreuzes zurückweicht, ist der Triumph der Warenuniversalität, das Reich des Tauschwertes, der Triumph des glücklichen Denkens, das über ein nicht vorhandenes Glück herrscht.

Jene Transparenz, auf die sie stolz sind, ist nicht die Transparenz des Menschlichen, sondern diejenige der Mechanismen, die das Menschliche denaturieren. Gestern noch hätte ich einen solchen Betrug entlarvt, um die Schmach noch schmachvoller zu machen; da er sich aber heute selbst entlarvt, freue ich mich vielmehr, daß er in jedem einzelnen die Triebkraft des Lebenden und den ökonomischen Reflex, der diese Triebkraft tötet, direkt gegenüberstellt.


Das, was sie "Laxheit" nennen, ist die Herabsetzung der Verbotsschwelle unter dem Druck eines hedonistischen Marktes, der die Überschreitung legalisiert.

Wie der Preis der Sünde demokratisch wurde

Eine unsittliche Handlung, die Macht und Profit verschafft, ist keine Unsittlichkeit, sondern ein einträgliches Geschäft. Niemals hat die Ökonomie etwas vernachlässigt, wovon sie sich einen materiellen und geistigen Nutzen erhofft hat.

War die Religion nicht eigentlich das erste Unternehmen, das mit der abgefeimten Behandlung der Verdrängung und der Abreaktion der Triebe gedeihen konnte? Sind die natürlichen Freiheiten einmal den Anforderungen der täglichen Arbeit unterworfen, dann ist es eine Sünde, ihnen nachzugeben - eine Sünde gegen den Geist der Ökonomie. Sehr früh hat der Priester es verstanden, sich zum Kontrolleur und Buchhalter der "menschlichen Schwäche" zu machen. Er lauert auf den Rückfall des Menschen in die Animalität und stellt sich am Ausgang auf, um den Preis der Buße und der Erlösung auszuhandeln. Wen wundert es, wenn die Römische Kirche, die die Krämertugenden des Römischen Reiches geerbt hat, dermaßen die Fehlbarkeit des von Versuchungen heimgesuchten Menschen betont? Je mehr der Sünder erliegt, desto besser bezahlt er die Gebühr, die ihm das Seelenheil gewährt, mit Geld, Gehorsam und ergebenem Schwachsinn. Leider sind die religiösen Angelegenheiten, seit die irdische Ökonomie die himmlische verschlungen hat, in profane Hände gefallen, die sich weniger um geistliche Hilfe als um geldwirtschaftliche Wirklichkeit kümmern. Es hat genügt, daß die Lust in die Demokratie der Supermärkte eindringt, damit asketische Erlösungsformeln, bei denen man blechen und sich gleichzeitig an die Brust schlagen mußte, außer Gebrauch kommen.

Nicht die wissenschaftliche Vernunft hat den religiösen Obskurantismus hinweggefegt, sondern das keinen Widerspruch duldende Recht des Umsatzes. Es ist befugt, alles zu bevorzugen, mit Ausnahme der Kostenlosigkeit. Es stellt ein in konsumierbare Waren zerlegtes und für jeden erschwingliches Glück zum Verkauf Es hat für eine Befriedigung zu niedrigen Preisen ein ganzes Sortiment von Wünschen erdacht, die künstlich einer blendenden Technik des Wohlbefindens nachgebildet sind. Es hat den Triumph der automatisierten Autonomie programmiert: Sexshops, Quickdinners, Vibratoren, Peepshows, Fernsehapparate, Kontakt-Videoclips, soziale, kulturelle und psychologische Selbstbedienung.

Entscheiden wollen, ob dies gut oder schlecht sei, hieße vergeblich streiten, da das Leben anderswo ist. Sicher ist, daß die alte Tyrannei von Altar und Pflug in Europa durch eine formale und kommerzielle Freiheit verdrängt wurde, die den Warenhumanismus zu einem hohen Entwicklungsgrad geführt hat, nämlich zu einer Auffassung, die dem Menschen dieselben Rechte wie einem Wertgegenstand zugesteht, nicht mehr und nicht weniger. Das ist viel, wenn man an so viele geopferte Generationen denkt und an die unzähligen Menschenleben, die verkürzt wurden, weil sie weniger als eine taube Nuß wert waren. Das ist andererseits zu wenig für denjenigen, der meint, sein Leben sei einmalig und könne weder bezahlt noch getauscht werden.

In der Folge sind jedoch viele Ängste, Frustrationen, aggressive und tückische Verhaltensweisen dabei auszusterben. Die hedonistische Kundschaft, offen und beinahe staatlicherseits animiert, im Vorbeigehen skrupellos und schamlos die Schüssel zu ergreifen, die mit Erotik, quantifizierter Leidenschaft und informatisierten Bekanntschaften gefüllt ist, lernt, die Ängste und Schuldgefühle abzuschütteln, mit denen der religiöse und moralische Wundbrand die geringsten Befriedigungen unlängst noch geschwärzt hat.

Allerdings müssen diese Freiheiten, die nur Freiheiten des Marktes sind, bezahlt werden. Die meisten Überschreitungen genießen eine offizielle Anerkennung, es genügt, die Rechnung zu begleichen.

Dennoch ist die Angst zu genießen nicht verschwunden, sie wurde bloß auf die Zahlungsbilanz verwiesen, während die Strenge der Verbote gleichzeitig nachließ, damit man sie ratenweise überschreiten kann. Letzten Endes taucht die absolute Steuer immer auf, die nicht zu tilgende Schuld eines Lebens, das so lange ökonomisiert wird, bis ihm nur noch der Tod in den Knochen steckt.


Je weniger sie das Bedürfnis spüren, sich gegen sich selbst zu schützen, desto mehr kommen sie ohne den Schutz der anderen und gegen die anderen aus.

Die Öffnung

Die Mauern der Hochburgen, hinter denen sich Individuen und Völker so lange verschanzten, sind vollgesogen mit Angst und Vertrauen. Das Schicksal der Nationen, der Städte und der Menschen lavierte zwischen Zutrauen und Argwohn, Ehrlichkeit und Lüge, Verrat und Treue. Die Menschen der Ökonomie haben List und Unruhe, die bei den Tieren als Dauerzustand herrschen, in sich selbst und in ihre Gesellschaften eingeschlossen.

Nun unterscheidet sich die Bedrohung, die sie dem außerhalb der Schutzwälle stehenden Fremden zuschreiben, nicht wesentlich von jener; die sie im Innersten spüren: jene Bewegung des Körpers zum Genuß hin, die unterdrückt wird, weil sie die Zivilisation der Arbeit bedroht.

Der Schutz der Götter und der Herren, den sie durch ihre Schreie und ihre Opfer herbeiriefen, war niemals etwas anderes als ein Schutz gegen sich selbst, gegen das natürliche Verlangen. Ein' feste Burg ist unser Gott!

Die Sintflut der Ware hat die Mauern der Agrarmentalität und des Protektionismus dem Erdboden gleichgemacht; sogar der Charakterpanzer zeigt Risse und öffnet sich. Wir wissen zwar, daß ein anderer Kreis sich bildet, um das Reich der Ware an seinen neuen Grenzen zu schützen, die Angst hat jedoch für einige Zeit ihre Umklammerung gelockert.

Immer wieder hat alles, was sich verschließt, nur die Dinge auf Kosten der Menschen geschützt. Es gibt weder eine Familie noch eine Gesellschaft, die nicht nach Art einer Mafia funktioniert: Immer geht es darum, die Angst vor dem, "was passieren kann", zu verbreiten, um mit mütterlicher Fürsorge das Schutzmittel gegen die Gefahren zu verkaufen, die auf das Kind, den Bürger, die Nation lauern.

Die meisten Tyranneien haben mit einer Verbesserung der allgemeinen Lage angefangen, um auf die übliche Herrschaft einer schützenden Macht und einer geschützten Dummheit hinauszulaufen. Dieses Phänomen wird heute besser wahrgenommen, weil einerseits der Schutz, der von der Ökonomie gegen die vermeintliche Feindlichkeit der Natur gewährt wird, immer verdächtiger erscheint. Andererseits zeigt ein besseres Wissen vom Kind, wie die Liebe, die seine Autonomie zu stärken half, sich allmählich ökonomisch gestaltet: Sie wird gegen Zinsen ausgeliehen, gegen Fügsamkeit gewährt und verwandelt die schützende Fürsorge in eine Neurose der Macht.

Wenn das Feilschen um Gefühle die kostenlose Liebe dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterwirft, reproduziert die Trennung von Genuß und Arbeit im Kind den Ursprung der hierarchisierten Macht.


Das Schwinden der Angst

Solange die Macht der Könige und der Republiken ihr Ansehen bewahren konnte, waren das Überleben des Menschengeschlechts und die Sicherheit des Daseins nützliche Vorwände, um eine Angst zu verbreiten, die der Staatskasse Steuern und Unterwerfung eintrug. Von nun an fällt die Saat der Angst auf einen unfruchtbaren Boden; sie gedeiht für die Dauer einer Pressekampagne und stirbt dann ab.

Schaut euch die Verwirrung im großen Gruselkabinett der Armeen an! Sie stehen da und haben keinen Krieg vorzubereiten, keinen Aufstand niederzuschlagen und nicht einmal einen Generalstreik zu brechen. Sie sind darauf beschränkt, als Schaufenster eines Rüstungsmarktes zu dienen, der durch den Mangel an ernsthaften Konflikten immer mehr bedroht wird, und ihre Abschreckungskraft schreckt nicht einmal mehr vor der Lächerlichkeit ab.

Mitunter verfällt sogar die Polizei darauf, den Todesgeruch zu vertreiben, mit dem die Militärs der entwaffneten Menge das Gefühl von Sicherheit zu geben wissen.

Die Vorstellung, daß Verbrecher und Polizist zwei einander ergänzende und austauschbare, auf demselben Willen zur Unterdrückung zugeschnittene Rollen sind, hat nicht wenig dazu beigetragen, den einen wie den anderen von dem Haß und der Bewunderung zu säubern, die sie sich von ihren jeweiligen Anhängern und Gegnern zugezogen hatten. Der Kurs der Mörder von Tyrannen, Ministern, Bullen und Militärs, denen die Fraktion der Aufsässigen gestern noch Beifall spendete, ist in dem Maße gefallen, wie die Vorstellung, die man von ihnen hatte, mit der ihrer Opfer verschmolz. Sie wurden nicht nur verdächtigt, in diesem oder jenem Regime der Zwangsfreiheit nach dem Amt zu streben, das sie eben vakant gemacht hatten - nein, der Mordreflex ist es, der mißfällt: Sie haben dieselbe Verachtung für das Leben wie diejenigen, die ihnen gegenüberstehen.

Man muß sich selbst abgetötet haben, um den Tod des Nächsten zu fordern. Vor allem dann, wenn das allgegenwärtige Dahinsterben der Epoche einen solchen Grad der Macht und der Schwäche zugleich erreicht, daß das Leben sich überall im Bewußtsein und den Verhaltensweisen als die einzige wahrhaft menschliche Wirklichkeit ausbreitet - als die einzige Wirklichkeit, die einen Gebrauchswert hat.

Ich will damit aber nicht gesagt haben, daß ich, der ich nach der Beseitigung der Macht, der Armee und der Polizei in all ihren Erscheinungsformen trachte, deren Verschwinden wie durch einen Zauberschlag vor mir sehe. Ich weiß wohl, daß das Reich der Ökonomie bei seinem Zusammenbruch diejenigen mitzureißen droht, die sich aus Gewöhnung und einer gewissen Müdigkeit, "anderswo zu suchen", an die brüchigen Wirklichkeiten der alten Welt klammern. Das, was seinem Ende entgegengeht, läßt immer die Gespenster der Vergangenheit wiederaufleben und die Wahl eines nahen Todes mag über die Anstrengungen siegen, die die Wiederherstellung eines Willens zum Leben erfordert.

Ich will jedoch auf die neue Unschuld setzen und keinen Tag vergehen lassen, ohne mich ihr, besonnen oder verrückt, zu widmen; dabei räume ich ein, daß ich mich mit Zeichen zufrieden gebe, die meine Überzeugung - oft zu Recht, manchmal auch zu Unrecht - bekräftigen. So ist es mir nicht gleichgültig, daß die EItern sich mit der Kindheit vertraut machen und daß die Gründe des Herzens sich hier und dort gegen den Geschäftssinn durchsetzen. Mit Vergnügen höre ich die Stimmen, die die Chefs ablehnen und die Autonomie in Konflikten fordern, die nach alter Sitte von Gewerkschaftsbürokraten kontrolliert werden; sogar die noch ungewohnten Stimmen, die sich aus den Reihen des Richterstandes und der Polizei erheben, um das Amt zu entmilitarisieren und dem Verbrecher nicht mehr die Strafe, sondern irgendein Verfahren vorzuschlagen, im Sinne des Lebenden das zu verbessern, was aus Unkenntnis und Verachtung des Lebens begangen wurde.

Nicht durch Spott, sondern durch das Wörtlichnehmen wird man verhindern können, daß die Aufrufe des Menschlichen zu einem abstrakten Diskurs werden und sich durch die Tatsachen verleugnet sehen.


Gegen den Rückgriff auf die Angst in der Ökologie

Die Angst dringt in dem Augenblick in das Herz des Menschen ein, wenn er daran gehindert wird, zu sich selbst zu kommen. Damit meine ich, daß er die schreckenerregende Tierwelt nur verläßt, um dem Schrecken eines gesellschaftlichen Dschungels zu verfallen, in dem es ein Verbrechen ist, sich frei und großmütig, der menschlichen Natur entsprechend, zu verhalten.

Indem sie das Überleben der ganzen Erde bedroht, löst die Ökonomie eine wesentliche Angst aus. Während sie sich einerseits als Garant des Wohlstands ausgibt, hält sie andererseits all jene in ihrer Falle gefangen, die versuchen, einen anderen Weg zu wählen, sei es die Unabhängigkeit des Kindes oder die Förderung natürlicher Energien.

Als ökonomisches Argument besteht die Angst darin, Türen und Fenster zu verriegeln, während der Feind schon im Hause steht. Sie macht die Gefahr größer unter dem Vorwand, vor ihr zu schützen. Furcht vor einer zur Wüste gemachten Erde, vor einer systematisch ermordeten Natur einzujagen - ist dies nicht noch einmal eine Art, sich in dem Kreis einzumauern, den die allumfassende Ware verschmutzt hat, um darin zugrunde zu gehen?

Indem die Warenexpansion die Schutzwälle der Agrargesellschaft zerstört hat, um sie weiter weg an den Grenzen der Rentabilität wiederaufzubauen, hat sie die Herde der Ängste an der Trennungslinie zwischen einer im Sterben liegenden Welt und einer zu neuem Leben zu erweckenden Natur wieder zusammengetrieben.

Das Bedrohliche an der Angst vor dem Tod, welche die Menschen bis in ihre selbstmörderischen Kühnheiten hinein verdummt, ist die Tatsache, daß sie ursprünglich eine Angst vor dem Leben ist. Entschlafen, die Schwelle des Todes überschreiten, das gehört so sehr der Logik der Dinge an, daß die Menschen, reduziert auf die Gegenstände, die sie produzieren, paradoxerweise mehr Sicherheit und Zuversicht darin finden als in dem Entschluß, mit dem Leben anzufangen und sich von den eigenen Genüssen leiten zu lassen.

Die Angst vor einer ökologischen Apokalypse vertuscht die Chance, die sich der Natur und der menschlichen Natur bietet.


Natürliche Angst, denaturierte Angst und menschliche Behandlung der Angst

Der Angst wie der Krankheit ist gemeinsam, daß beide der Sprache des Körpers angehören. Die Angst warnt den Körper vor den Gefahren, denen er ausgesetzt ist. Ist es nicht ein sonderbares Verhalten, ihre Ursache und ihre Wirkungen durch die wilde Flucht - oder jene Mut genannte Flucht nach vorn - zu vergrößern, anstatt sich gegen die angekündigten Risiken schützen zu lernen? Diejenigen, die einen vertrauten und liebevollen Umgang mit wilden Tieren pflegen, wissen, wie sehr eine Reaktion der Furcht den Schrecken und folglich die Aggressivität des Tieres verstärkt, auf das sie gestoßen sind. Spricht man es dagegen ruhig und mit der Stimme des Herzens an, so wird das Tier besänftigt und die Unruhe, die bei dieser traditionell durch Mißverständnis und Verachtung geprägten Begegnung entsteht, läßt nach.

Das ist Orpheus' Geheimnis: Die Poesie ist die Sprache der Gefühle, sie stellt die Harmonie her, da sie die elementaren Rhythmen, die das Herz der Natur schlagen lassen, aufnimmt und sich zu eigen macht.

Dies ist das Geheimnis, das denen zugänglich ist, die sich heute mit Kindern vertraut machen, diesen kleinen, der Humanisierung entgegengehenden Tieren, die bisher nur die Herrschaft des Jägers und des Gejagten, des Bändigers und des Gebändigten, des Knüppel- und des Prankenhiebes erlebt haben.

Das Ende des Feilschens um Gefühle - d.h. der ökonomisierten, unter die Vormundschaft der Ökonomie gestellten Liebe - hat einige Aussicht, jene Angst im Bauch auszurotten, die von der Wiege bis zur Bahre am Leben nagt, seit die tierischen Triebe unterdrückt statt menschlich verfeinert werden.

Die Furcht besiegen heißt, sie noch anerkennen und dann austreiben, indem man sie auf die anderen projiziert. Es geht aber vielmehr darum, ihre neurotische Verankerung aufzuheben - im Körper die Angst auszumerzen, die aus den Wechselfällen der Liebe und der Verleugnung des Genusses entsteht.

Man weiß nun, wie weitgehend die Furcht die Gefahr hervorruft, vergrößert und angesichts der Machtlosigkeit und der Schwäche anlockt, in die sie jeden führt, als stieße sie ihn in die nächtlichen Schrecken der frühen Kindheit zurück. Fürwahr ein schönes Wissen, alles über den Blitz und seine Wirkungen zu kennen, und auf dem Gebiet der existentiellen Angst immer noch unter einen Baum zu laufen, um sich vor dem Gewitter zu schützen.

Die Angst wird mit der Abhängigkeit, die sie übermäßig wachsen läßt, verschwinden, weil die Macht damit auf ihre Rechnung kommt. Nur die Autonomie, die der Kindheit bei der Verfeinerung ihrer Genüsse teilweise angeboten wird, kann die Furcht auf ein Signal reduzieren, das zuerst vom Willen zum Leben und nicht mehr vom Todesreflex wahrgenommen wird.


Handel und Industrie haben der im Schnellverfahren tätigen Justiz der Agrargesellschaften eine menschliche Form verliehen.

Die Justiz

Nachdem die Menschen der Ökonomie ihr privates und öffentliches Leben von einem System abhängig gemacht haben, in dem alles bezahlt wird, wäre es überaus erstaunlich, wenn sie ihre Bräuche, ihre Gedanken und ihre Gesten außerhalb der Bilanz von Kredit und Mißkredit, von Aktiva und Passiva, außerhalb einer Buchführung von Verdienst und Verfehlung entwickeln könnten.

Ihre Auffassung von Justiz geht ganz im Prinzip der Tauschbeziehungen auf.


Justiz und Willkür

Der Kampf der Gerechtigkeit gegen die Willkür folgt den Spuren des Guerillakrieges, der vom bewußten, aufgeklärten Handel immer gegen die fortschrittsfeindlichen Mächte von Grund und Boden geführt worden ist.

Die Laune der Tyrannen, die ausgeklügelte Grausamkeit der Foltern, die Unbarmherzigkeit der Strafen, die Herrschaft der Ungerechtigkeit drücken im Blutopfer der Vergeltung ihr Siegel auf die Geschichte der Gesellschaften, in denen die Landwirtschaft vorherrscht oder weiterlebt. Die orientalischen Gewaltherrschaften, die Feudalsysteme, die modernen Diktaturen, welche die Rückkehr zum ländlichen Leben rühmen, die unter dem Mangel an "Lebensraum" leidenden protektionistischen Systeme, die starr im archaistischen Denken steckenden Bauerngemeinschaften - all das, was die Belagerungspsychose einer ganzen Nation, die Identifizierung mit einem Gebiet, die Abkapselung im Eigentumsrecht und der Charakterpanzer an Frustrationen und Ängsten, an Wut und fanatischem Haß erzeugen, hat sich von einem Jahrhundert zum anderen in einer Welle von Massakern, Holocausts, Völkermorden, Autodafés, Pogromen, Racheakten und alltäglichen Greueltaten entleert.

Dagegen gibt es keine "vom strahlenden Glanz des Handels umgebene und von den Palmwedeln der Industrie gekrönte" Epoche, die gegen die Rituale massenhafter Sühne nicht einem rationalen Bemühen zum Sieg verholfen hat, mit dem menschlichen Kapital sparsam zu sein - nicht um die menschliche Natur, sondern um die Kraft zu schonen, die die Arbeit aus ihr schöpft, um den Fortschritt der Ware zu sichern. Die Justiz wird mit dem Aufstieg des Humanismus humaner, und der Humanismus ist die Kunst, den Menschen zu ökonomisieren, um aus ihm einen dauerhaften Profit zu ziehen.


Die Ökonomie erspart die Unterdrückung

Wenn der Zug der Justizgreuel samt Folterungen und Hinrichtungen sich langsam entfernt, verdanken wir das mehr der Herrschaft der Rentabilität als dem wirksamen Einfluß empfindsamer Seelen.

Warum sollte man Tausende von Aufständischen niederschießen, wenn es zur Wiederherstellung der Ordnung genügt, zehn Menschen an die Wand zu stellen? Die aufgeklärte Justiz straft wie die Mafia nur mit Bedauern, d.h. im höheren Interesse der Geschäfte.

Überdies wird dem Schuldigen eine sorgfältigere Behandlung zuteil, seitdem die Arbeit für die Konsumtion die Arbeit für die Produktion überlagert. Die Peitsche der Notwendigkeit schlägt weniger zu, sie hält vielmehr das Zuckerbrot der Verführung bereit. Seit das Neonlicht der Supermärkte sicherer als das Bajonett in die Fabrik führt, gibt sich die Justiz wie ein Kundendienst oder eine Rechtsabteilung.

Der Schuldige ist ein Kunde, der gegen die bei seiner Geburt zwangsweise eingegangenen Verpflichtungen verstoßen hat, und dem nun Zahlungserleichterungen eingeräumt werden. Das dem Tausch innewohnende Schuldgefühl hat seine Dramatisierung und sogar jene Unwürdigkeit eingebüßt, die man damals bei der Vorstellung empfand, man wäre seine Schuld gegenüber Gott, dem König, der Sache, der Ehre und sonstigen Lappalien nie genug losgeworden. Mag der himmlische Pomp von Opfer und Erlösung noch so sehr das prunkhafte Possenspiel der Gerichte mit Hermelin und Purpur färben - trotzdem gewinnt das Gefühl die Oberhand, die Justizmaschinerie sei nichts mehr und nichts weniger als eine Registrierkasse, an der die Schuld mit Geldstrafen und Gefängnisraten beglichen wird, so wie die Lohnarbeit die Rechnung für die konsumierbaren Lüste bezahlt.

Im Vergleich zu den Ländern, wo Gulags und kirchliche Verliese in Gebrauch waren, und im Hinblick auf die Epochen der Verbrennungsöfen und der Scheiterhaufen ist der Fortschritt offenkundig. Wie kann man sich jedoch mit einer demokratischen Justiz zufriedengeben, die jede Hoffnung auf Milde unter der stillschweigenden Bedingung erlaubt, daß man sich schuldig fühlt? Die Unmenschlichkeit ist so eingerichtet, daß die errungenen Vorteile die Nachteile, die beseitigt wurden, fast immer unvorteilhaft ersetzen. So sieht man, wie die Menschen der Ökonomie in dem Maße, wie die Justiz ihre Strenge mildert, sich selbst für Fehler strafen, die sie sich insgeheim zur Last legen, und das Schafott durch Selbstmord, die Folter durch Krankheit, den Pranger durch Angst ersetzen.


Die humanistische Justiz ist durch den Fortschritt vom Recht des Sündenbocks zum Recht der Vergeltung entstanden.


Die Tauschbeziehung ist darin eine Stütze der Zivilisation, daß sie das Recht des Stärkeren auf die gewinnbringende Ausbeutung des Schwächeren beschränkt. Die dem Sklaven eingeräumte Überlebenszeit geht niemals über die Dauer des Profits hinaus, den er seinem Herrn sichert.

Die Allgegenwart des Tausches ist jenes Gespenst der immanenten Gerechtigkeit, das zwischen dem schlimmsten aller Tyrannen und dem bedeutungslosesten seiner Untertanen auftaucht, um das Übermaß an Macht und das Übermaß an Unwürdigkeit zu mildern. Das, was sie der Nachsicht der Götter und der Gnade der Fürsten zugeschrieben haben, gehörte der gemäßigten Ökonomie an. Die Geschichte der menschlichen Emanzipation hat niemals Freiheiten bestätigt, die nicht Quellen vergrößerter Einkünfte gewesen sind. Die Justiz hat sich zusammen mit dem Preis der Waren demokratisiert.


Die Segnungen der Warenexpansion

Der Widerspruch zwischen dem Archaismus des Ackerbaus und der Modernität der Warenexpansion beherrscht die Entwicklung einer etwa zehntausendjährigen Zivilisation.

Die bäuerliche Gemeinschaft steht im Herzen der ursprünglichen Aufopferung wie im Herzen eines Wirbelsturms. Der Verzicht auf sich selbst - ohne den die Arbeit die natürliche Materie nicht ausbeuten könnte, um aus ihr einen Gegenstand des Tausches herauszuholen - hat niemals aufgehört, um sich herum eine Zerstörungswut zu verbreiten, die sich im selben Maßstab steigert wie das Verbot, das gegen das Verlangen ausgesprochen wird, zu schaffen und sich selbst zu schaffen.

Das Gold, die Gedanken, das Brot, der Wein gehören dem Handel der Menschen und der Dinge an, der sie verteilt. Sie sind vorher am eigenen Leib durch die tägliche Kastration der Begierden, durch die auf unmittelbaren Nutzen gerichtete Folterung der Natur bezahlt worden. Ist von einer solchen Behandlung zu erwarten, daß sie zur Liebe, zur Zärtlichkeit und zur Großzügigkeit anregt? Macht sie nicht im Gegenteil klar, warum Männer und Frauen, deren Wesen so schmerzhaft angegriffen wird, das Unbefriedigtsein, zu dem sie ihre Arbeit verdammt, durch ein Sühneopfer, durch einen Sündenbock zu befriedigen trachten? Ist es verwunderlich, wenn diejenigen, die mit Warnschüssen und der Peitsche der Predigt zur Ordnung gerufen und zur Angst vor dem Genuß getrieben werden, steinigen, lynchen, foltern und sich dem Rassismus, Mißhandlungen und Ausgrenzungen jeglicher Art hingeben, wenn der Stachel der Strenge, des Verdienstausfalls, des gefährdeten Vaterlandes, der bedrohten Vorrechte sie im Gechlecht sticht?

Wer entrüstet sich über solch einen Zustand der Grausamkeit, der Barbarei und des Obskurantismus? Die Männer des einträglichen Dialogs, der rentablen Aufgeschlossenheit, die Männer der Modernität. Mehr als die Großzügigkeit bestimmt der Profit, daß Kriegsgefangene gegen Lösegeld ausgetauscht oder als Sklaven verkauft und nicht bis zum letzten gefoltert werden, indem man die auf sie ausgestellten Wechsel der Rache einlöst. Gerade hier hat der Humanismus seinen Ursprung.

Im Vergleich zum blinden Opfer des Sündenbocks und der besiegten Völker kennzeichnen die Gesetze der Vergeltung und die absolute Gerechtigkeit des "Auge um Auge, Zahn um Zahn" den Fortschritt des rationalen Tausches gegenüber der brutalen Kompensation der Abreaktion. Im Gegensatz zur agrarischen Unbeweglichkeit gehört es zur Logik des Tausches, sich zu weniger primitiven Formen weiterzuentwickeln, für die das Geld ein Prinzip universaler Vernunft, ein Eichmaß der Aktiva und Passiva, eine behördlich anerkannte Waage wird, auf der das Für und Wider abgewogen wird.

Dem Blutbad als Sühne ist die Justiz abgeneigt, weil sie darin nur eine sinnlose Verschwendung entdecken kann. Ist es nicht geradezu amüsant, wenn die Sprache der Kriminologie den Mord, der viel einbringt, als interessant und eigennützig, den mit dürftigem Ertrag als gemein und jenen als willkürlich bezeichnet - mit dem diesem Wort innewohnenden Abscheu -, durch den sich der Täter für die eigenen Frustrationen und Demütigungen bei einem Schwächeren schadlos hält, als wäre er bei der irrationalen und tierischen Form des Tausches stehengeblieben?


Lob des Humanismus

Die Humanisten machen es sich zur Pflicht, das Grundprinzip des Tausches, das Prinzip der Denaturierung, zu ignorieren: die notwendige Umwandlung der Lebenskraft in Arbeitskraft. Dagegen sind sie unermüdlich auf dem Gebiet der Bequemlichkeiten und der Erleichterungen, die durch den Handel und seine Philosophie im Laufe der Jahrhunderte in die unmenschliche Aufopferung des Menschen zugunsten der Ökonomie eingeführt worden sind.

Durchdrungen von dem Licht, das die universale Ware in alle Ecken der Welt trägt, preisen sie allenthalben die Größe und die Vortrefflichkeit des Menschen, der an ihrer Vervollkommnung arbeitet. In einem gewissen Sinne - d.h. in ihrem - sind sie nicht im Unrecht.

Unbestreitbar hat die Idee eines für alle angemessenen Profits die Errungenschaften der demokratischen Rechte gefestigt, sein Gesetz dem Recht des Stärkeren aufgezwungen, die Ungerechtigkeiten und die Unzufriedenheiten gemildert und den Frieden in die gesellschaftlichen Wirren divergierender Interessen zurückgebracht. Wer sollte sich über die Freiheiten beklagen, in deren Schatten es erlaubt ist, ohne allzu große Furcht zu lieben, zu trinken, zu essen, zu sprechen, zu denken, seine Meinung zu äußern, den Ort zu wechseln, zu atmen? Weiß ich nicht selbst zur Genüge, daß ich sonst nicht schreiben könnte, ohne der Gefahr der Zensur und des Scheiterhaufens ausgesetzt zu sein?

Ich spotte nicht über das, was innerhalb ihrer Begrenzungen erlaubt ist, ich lehne nur ihre Grenzen ab, die nicht diejenigen des Menschlichen, sondern die des Lukrativen sind. Ich werfe ihnen vor, allem Anschein zum Trotz weder gegeben noch erworben zu sein, sondern im Verwirklichungsprozeß der Ökonomie zu entstehen, sich zu gestalten und sich aufzuzwingen. Ich nehme es diesen Freiheiten übel, niemals über den freien Güterverkehr hinauszugehen, sondern sich auf das Recht zu beschränken, zu verkaufen, zu kaufen und gemäß Angebot und Nachfrage Dienst zu tun. Wer zugibt, daß man für derartige Gefälligkeiten bezahlen muß, erkennt auch, wie bald sie sich als solche verleugnen.

Nicht ohne Betrug lassen sich die in den autoritären und bürokratischen Verhaltensweisen enthaltene Politik des Sündenbocks sowie der Fremdenhaß, der Rassismus, das Sektierertum mißbilligen, wenn man es nicht der Mühe wert hält, die ökonomische Herrschaft zu brechen, die das Begehren an seiner Wurzel bricht. Solange diese Wunde des Seins, die Wunde des geschundenen Genusses, nicht heilt, läßt die große Beschwörung des Todes die Tränen und das Blut, die von jedem vergossen werden, über die anderen kommen. Hütet euch zu vergessen, daß es in dem festlichen Palast, in dem die Menschenrechte von der üppigen Geselligkeit der Ware gefeiert werden, einen Keller gibt, der jederzeit als Gaskammer benutzt werden kann.


Der Tod ist die wahre egalitäre Justiz, so wie die Ware das Ende des Menschen ist, der sie erzeugt. Das, was lebt, entgeht dem Gerechten wie dem Ungerechten, weil es der Ökonomie entgeht.

Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit

Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit hat aufgehört, das zu verheimlichen, was er immer gewesen ist: die Eroberung einer Ware durch die Menschen, die ihrerseits durch die Ware erobert werden, und der Ersatz der lebenden Wirklichkeit, die die Ware aufbraucht, durch eine menschliche Form - eine Abstraktion.

Soll ich mit Forderungen bewaffnet auf die Straße gehen? Wozu? Um Rechte zu verlangen, die mir zum Preis eines neuen Verzichts zugestanden werden, mich auf meine Kosten bereichern und mir ein ärmeres Leben hinterlassen?

Jahrhundertelang haben die Leute für die Gleichheit gekämpft, und sie werden sich heute bewußt, daß die einzig wirkliche Gleichheit in der allen aufgezwungenen Pflicht besteht, sich aufzuopfern, um zu arbeiten - für nichts oder für fast nichts zu arbeiten, da Hab und Gut vom Untergang bedroht sind, die Macht lächerlich macht und das Überleben nur Langeweile ist.

Mich geht nur die Schaffung einer Welt etwas an, in der man nicht mehr bezahlen muß.


Die Arbeit und der Tod

Früher trösteten sie sich über die qualvolle Ungerechtigkeit hinweg, indem sie sich auf den für alle - ob reich oder arm, groß oder klein, glücklich oder unglücklich, mächtig oder elend - bestehenden Zwang zu sterben beriefen. Durch den Tod ging der Traum einer egalitären Justiz in Erfüllung.

Da die Arbeit jetzt als alltäglicher, allumfassender Verlust des Lebens empfunden wird, scheint zwischen der Gleichheit vor dem Tod und dem gleichen Zwang, jeden Tag zu opfern, nur der Unterschied zwischen Barzahlung und Zahlungsaufschub zu bestehen. In der heutigen, für den Euphemismus so günstigen Zeit, bedeutet Aufschub sogar Erleichterung.

Ihre Gerechtigkeit fällt in den Bereich der Euthanasie, bei der die gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten wie eine tödliche, nach und nach injizierte Dosis wirkt. Und welch sozusagen "kosmischer" Trost liegt in dem Gefühl, daß die Ware, dieses tote Ding, dieser am Lebenden saugende Vampir, gleichzeitig alle Arten und die sie bisher ernährende Erde umklammert und auslöscht!


Die Selbstbestrafung

In mancher Hinsicht ist es ein Vorteil, jetzt allein mit dem Schatten des Todes dazustehen, der weder in Gott noch in den Parzen, noch gar in einem natürlichen Gesetz seinen Ursprung hat, sondern in einem durch die ökonomische Notwendigkeit bedingten Reflex. Dies stellt einen Glücksfall dar, den man nutzen sollte.

Tatsächlich darf man wohl zwischen jenen Gesten unterscheiden, die das Leben aus Routine demütigen, und jenen, die sich bemühen, es neu zu beleben. Aber wieviel Hartnäckigkeit braucht man dazu! Und wie viele werden aufrichtig genug sein, sich einzugestehen, daß sie meistens das Urteil über sich selbst vollstrecken, das die Selbsttötung vorsieht und das zu unterschreiben eine lächerliche Geschäftigkeit inmitten der Eitelkeit von Menschen und Dingen einlädt.

Manch einer, der gegen Folter und Todesstrafe kämpft, stellt eines Morgens fest, daß er niemals aufgehört hat, sich auf dem Schafott des eigenen Schuldgefühls unter großen Schmerzen zu quälen. Und ein anderer, der zur Abschaffung der Gefängnisse aufruft, hat nie damit Schluß gemacht, sich in den Niederungen des eigenen Charakterpanzers einzusperren.

Seitdem die Ökonomie ihre Essenz von der himmlischen Transzendenz in die irdische Immanenz zurückgeholt hat, verwirklicht sie diese so gut, daß sie in der ökonomisierten Existenz jedes einzelnen konkret wird. Dadurch wird das Bewußtsein heller und die Wahl klarer. Entweder muß man, wenn man sich als Richter, als Schuldiger oder Henker fühlt, den Herzinfarkt, den Krebs, die Thrombose oder den Unfall heimlich und wie die Verkündigung einer Strafe programmieren, oder man muß jede Lust an sich reißen, um sich eine Unschuld anzumaßen, die nichts und niemandem Rechenschaft schuldet.


Jede Justiz ist schuldig

Die Menschen der Ökonomie können sich auf nichts anderes berufen als auf jene immanente Gerechtigkeit, die sich vorbereitet, sie in der Endzeit der Erde, die den Zustand der reinen Ware erreicht, zu ökonomisieren. Ihr werdet sie leicht erkennen.

Sie sind vor Angst und Unterdrückung so sehr in die Knie gegangen, daß sie sich nur noch aufrichten können, um die anderen in die Knie zu zwingen, ihnen das eigene Unglück zur Last zu legen und sie mit derselben Strafe zu belegen, die sie sich selbst den ganzen Tag über auferlegen. Die Berufung zum Opfer lebt davon, die anderen zu opfern.

Sie büßen, also urteilen sie. Ihr Urteil fordert, daß die Agonie, die sie sich selbst aufbürden, über die ganze Welt kommt. Deswegen grinsen sie, wenn der Tod die gezinkten Karten von Tschernobyl oder von Aids aus dem Ärmel zieht. Alle Alarmrufe sind ihnen recht, die dem Gerücht vom Jüngsten Gericht schrille Töne hinzufügen. Wenn sie die Luftverschmutzung aufdecken, dann um noch einmal die Atmosphäre der Schuld, in der sie vegetieren, zu belüften.

Unter der Gleichgültigkeit des Geschäftsmannes und der Empörung des Aufständischen sickert derselbe Geruch nach verachteter Existenz und nach abgestorbenem Leben durch. Die Partei des Todes hat die größte Achtung vor dem Unglück, da es, um sich noch größere Schicksalsschläge zuzuziehen, nichts Besseres gibt, als sich damit abzufinden, kleinere zu ertragen. Zwangsläufig geschieht nur diejenige Zwangsläufigkeit, für die wir uns selbst anfällig gemacht haben.


Gegen den Antiterrorismus

Es gibt eine Verurteilung des Terrorismus, die genauso widerwärtig ist wie der Terrorismus selbst. Damit soll nicht der gewöhnliche Zynismus des Staates beschuldigt werden, der den Frieden rühmt und Waffen verkauft, wenn er nicht gerade im Namen der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung einen Schüler umbringt. Die Staatsschergen wissen zu sehr um die von ihnen angewandte Gewalt, um sich aufrichtig empören zu können, wenn ein Killer, der sich um die Armee verdient gemacht hat, einen General abknallt, dessen Beruf immerhin darin besteht, mit kalkuliertem Vergeltungsrisiko zu morden.

Nein, ich denke an das Heuchlerische und Durchtriebene, das in der Mißbilligung der meisten steckt. Denn sollte es da etwas zu verurteilen geben, so ist schließlich nur schwer zu verstehen, warum die Schmach nicht sowohl die Privatterroristen als auch den Staatsterrorismus, der die Terroristen sozusagen in Konkurrenz erzeugt, trifft.

In wessen Namen will man die Rechte, die der Staat sich dem Bürger gegenüber anmaßt - Recht auf Schafott, Gefängnis, Geldstrafe, Registrierung, Beschlagnahme, Kontrolle, Zwangsvollstreckung, Entlohnung -, jenen embryonalen Staaten verweigern, wie sie Drogenlobbies, Interessenverbände, Privatmilizen, Mafia, angeblich revolutionäre Faktionen, terroristische Sturmabteilungen, einzelne Geschäftemacher des Verbrechens und des Ressentiments sind? Etwa im Namen des Schutzes, den der Staat als Gegenleistung gewährt? Leider ist dieser Schutz auch das Produkt, was die Konkurrenten anbieten, und ihre Erpressung hat meistens nur den Nachteil, die vom Staat legal praktizierte Erpressung illegal zu ergänzen.

Es liegt mir nichts daran, in Kreisen zu verkehren, die besser darauf vorbereitet sind, einander zu massakrieren, als den Städten und Wäldern Leben zu spenden. Die Frage verdient jedoch gestellt zu werden: Wer sind eigentlich jene edlen Geister, die Bombenleger und Schußwaffenideologen hassen? Meistens Haus- und Familienterroristen, kopf- und planlose Todesbringer, Angstverbreiter und Erpresser, die Liebe schenken und verweigern, um Macht herauszuschlagen und die Unabhängigkeitsanwandlungen ihrer Angehörigen zu ersticken. Unter der Fahne des Humanismus sind diese Leute aus dem gleichen Charakterholz geschnitzt wie die Übeltäter der illegalen Macht.


Gegen den Terrorismus

In ihrer unmenschlichen Allmacht haben die Staaten der Vergangenheit Helden hervorgebracht, die, indem sie es wagten, sich allein gegen den Leviathan aufzulehnen, vom Glanz einer unterdrückten Menschheit wie von einem schwarzen Licht umgeben waren.

Coeurderoy, Ravachol, Henry, Vaillant, Caserio, Bonnot, Soudy, Raymond-la Science, Libertad, Mecislas Charrier, Pauwels, Marius Jacob (der niemals getötet hat), Sabate, Capdevila und so viele andere - ich habe die Bewunderung abgelegt, die ich für euch empfand, und meine Zuneigung ist dadurch größer geworden, da ich einsehe, wie sehr es um den bloßen Schutz eines Lebens ging, wenn ihr das euch an die Kehle gesetzte Messer in die entgegengesetzte Richtung zurückgestoßen habt.

Es stimmt heute in dem überstürzten Verfall jeder Form von Autorität nicht mehr, daß die Last der Knechtschaft und der Erniedrigung dem sich aufbäumenden Leben die Waffen des Todes in die Hand gibt. Dagegen sehe ich wohl, bis zu welchem Punkt der selbstmörderische Reflex und die Pflicht, für diese oder jene Sache zugrunde zu gehen, einem zunehmend in Mißkredit geratenen Staat neuen Kredit geben und das verblaßte Wappen der Macht wieder vergolden. Eine Untersuchung, inwieweit der Terrorismus die letzten kraftlosen Ideologien mit den Gewehrläufen aufgesammelt hat, würde übrigens genügen, um zu erkennen, womit man es zu tun hat. Sexismus, Rassismus, Marxismus, Sektierertum, Nationalismus, Mystizismus, Autoritarismus und Geschäftemacherei bieten ein ziemlich gutes Abbild dessen, was auf der Bühne des politischen Theaters noch übrigbleibt; es genügt, den Schaulustigen die jeweilige Melodie vorzupfeifen, damit die Komödianten der Ordnung einen Anschein von Überzeugung wiederfinden.

Die europäischen Staaten hat schon das Unglück ereilt, eine Armee am Hals zu haben, die durch den Mangel an Kriegen und Aufständen zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist - was sollen sie mit ihrer Justiz, ihren Richtern, ihrer Polizei und ihrer Bürokratie anfangen, wenn der politische Terrorismus und das gemeinrechtliche Verbrechen verlorengehen?

Immer fand die Unterdrückung ihre Nahrung in der allen gemeinsamen Neigung, sich selbst zu unterdrücken, aus der die Regierungen ihre Stärke schöpfen. Gerade in dem Augenblick, da der Kurs des Schuldgefühls fällt, ziehen selbstmörderische Aktivisten ein System des Weltgerichts aus seiner Lethargie: Man tötet die anderen und tötet gleichzeitig sich selbst. Cui prodest?

Niederzuwerfen was von selbst zusammenstürzt, heißt, der eigenen Agonie inmitten der Ruinen ein Bett anbieten. Laßt die Toten zusammen mit den Toten den Kult des Kadavers in jener Ablehnung des Lebens feiern, die den Geist aller Religionen ausmacht.


Die neue Unschuld hebt das Schuldgefühl durch die Herrschaft des Lebenden auf

Das Leben vor allen Dingen

Der alte Ruf "Tod den Ausbeutern!" hallt nicht länger durch die Städte, weil er einem anderen Ruf Platz macht, der der Kindheit und einer ungetrübteren Leidenschaft entsprungen ist: "Das Leben vor allen Dingen!" Möge er sich verbreiten, und zwar nicht in den Köpfen, sondern in den Herzen - dann braucht ihr euch nicht länger Sorgen über die Teilnahmslosigkeit zu machen, in der all die archaischen Formen von Gehorsam und Ungehorsam steckenbleiben.

Die Freude darüber, der ständigen Erneuerung der Natur anzugehören, ist das beste Mittel gegen den alltäglichen Zwang der Ausbeutung und der Denaturierung. Dies ist die Zeit der Unschuld, in der das Kind sich selbst entdeckt, bevor die Erziehung die Lust des Erwachens mit der Pflicht zur Arbeit bezahlen läßt. Dort liegt das Geheimnis, das die Kette der Gewissensbisse, Opfer, Krankheiten, Frustrationen und Aggressivität auflöst, die Glied für Glied durch den Freihandel der Schuldgefühle geschmiedet wird.


Die Milde

Aus welchem Beweggrund wurde der Gnadenakt vollzogen, den die Hagiographen diesem oder jenem Potentaten, Monarchen, General oder Staatsmann zuschreiben? Dem erwarteten geistigen Profit, dem moralischen Ertrag, der in ihrem System des Mehrwerts im selben Verhältnis steht wie die Macht zum Geld. Es mag vorgekommen sein, daß sich in die kalte Berechnung eine wahre Großmütigkeit, eine Anwandlung authentischer Kostenlosigkeit eingeschlichen hat, als ob der Hauch des Menschlichen nur auf einen Riß im Panzer der Autorität gewartet hätte, um wieder Atem holen zu können.

Nun ist der Riß zusammen mit der Zerschlagung der Autorität immer deutlicher geworden. Der Preis der Vergebung ist zusammen mit dem Preis der Beleidigung gesunken, so daß die Ergüsse der natürlichen Großmütigkeit immer öfter von den Aufrechnungen der Vorfahren befreit sind. Daß man sich weniger darum kümmert, eine Bezahlung als Gegenleistung zu bekommen, ist auch ein Zeichen dafür, daß der Begriff der Belohnung und der Bestrafung nach und nach vor dem Überschwang der Zärtlichkeit, der Zuneigung und der Liebe zurückweicht.

Wer es lernt, die Gabe zur Liebe und zur Liebenswürdigkeit nur sich selbst zu verdanken, der braucht nicht länger von irgendeiner Seite oder von irgendwem Gnade zu erwarten.


Gegen die Strafe

Die Strafe schreckt nicht vom Verbrechen ab, sie spornt dazu an. Sie schafft ein gegenseitiges Überbieten, bei dem der Schuldige Gericht über die anderen hält, so wie die anderen später über ihn. Handelt der Verbrecher nicht wie ein unerbittlicher Richter? Er verurteilt, bestraft, begnadigt oder richtet sein Opfer hin, ohne vom Gesetz einer allgemeingültigen Gerechtigkeit abzuweichen. Sein Verbrechen macht aus ihm einen Lohnempfänger, und er weiß, daß er die entsprechende Steuer bezahlt, falls er gefaßt wird.

So ist die unabwendbare Logik des Tausches beschaffen, sie wiederholt sich endlos. Dennoch ist dies kein menschliches Gesetz, sondern nur das Gesetz einer Ökonomie, in der alles bezahlt werden muß.

Die Gewalt, die Vergewaltigung und das Attentat verdammen und sich auf eine Legalität berufen, die tötet, gefangennimmt, vergewaltigt und mißhandelt, heißt, sich auf die Unmenschlichkeit eines Marktes namens Justiz einlassen und sich mit einem heimlichen Gefühl der Rache in das Verhalten eines Richters und eines Verbrechers fügen.

Wie sehr ich auch gezwungen sein mag zu arbeiten, um zu überleben, und in diesem Fall auch mit Gewalt zu reagieren, um mich zu wehren - es kommt nicht in Frage, irgendwelche Drohungen hinzunehmen -, wird mich doch keiner dazu bringen, in den Wert der Arbeit oder in die Berechtigung der Vergeltung einzuwilligen. Eine Zivilisation, die für sich in Anspruch nimmt, ihre eigene Menschlichkeit zu schaffen, verleugnet sich selbst, wenn sie nicht alles aufbietet, um den Zyklus von Verbrechen und Strafe zu unterbrechen und der Justiz ein Ende zu setzen.

Mag ich zu bestimmten Stunden des Tages und der Nacht noch so sehr in ein Spiel hineingezogen werden, dessen Regeln der allumfassenden Ware angehören, so habe ich doch nicht selbst die Wahl zum Mitspielen getroffen; ich kümmere mich nicht darum, zu gewinnen oder zu verlieren, ich möchte einzig und allein aus dem Spiel ausscheiden. Wer beim Pflücken der zufälligen Lüste die ausgetretenen Pfade der Selbstbestrafung und ihrer Exorzismen meidet, schert sich nicht darum, zu verurteilen oder verurteilt zu werden.


Das Schuldgefühl nährt die Gewalt

Es sollte von nun an keine Schuldigen mehr geben, sondern nur noch Irrtümer, da es keinen Irrtum gibt, der nicht seine Berichtigung enthält. Selbst die am wenigsten wiedergutzumachende kriminelle Tat, der Mord, hat mehr Chancen, durch eine Haltung aus den Sitten zu verschwinden, die dem Leben - angefangen mit dem des Mörders selbst - den Vorzug gibt, als durch das Fortbestehen des schmierigen Schattens der Strafe, der Erlösung und der Sühne.

Verwendet ebensoviel Energie auf die Beseitigung des Schuldgefühls wie auf dessen Erhaltung, so werdet ihr die rohe oder heimtückische Gewalt des Todes sicherer zum Zurückweichen bringen als durch ihre Unterdrückung! Diese Gewalt ist eine bloße Umkehrung des Willens zum Leben, sie ist nicht mit der menschlichen Natur, sondern mit deren Denaturierung verwandt. Sie hat keinen Anteil an der Schaffung des Menschen, sondern am System der verallgemeinerten Ausbeutung, das durch den Vorrang der Arbeit vor dem Genuß erzwungen wird.


Die Abschaffung der Gefängnisse

Die widerwärtige Herrschaft der Gefängnisse wird erst enden, wenn jeder gelernt hat, sich selbst nicht mehr in einem Verhalten einzuschließen, das von den ökonomischen Reflexen des Profits und des Tausches durchdrungen und gestaltet wird.

Je weniger sich die Animalität hinter den Gitterstäben des Charakters einschließt und mit fortwährenden Frustrationen wütet, desto weiter öffnet sie die Tore des Genusses für fortschreitende Verfeinerungen; umso scheußlicher erscheint es allen, Verurteilte in Kerkern verkommen zu lassen, die dort nicht ihrer Übeltaten wegen schmoren, sondern weil sie die Dämonen beschwören, die die anständigen Leute in sich selbst begraben.

Was den Fortschritt betrifft, den der Humanismus sich herbeiwünscht, so ist er wirklich zum Schaudern. Sollten die Gefängnisse verschwinden, ohne daß der Genuß wieder zu seinen Rechten kommt, dann werden sie nur psychiatrischen Freiluftanstalten Platz machen, passend zu den Therapien, die die zur täglichen Arbeit Verurteilten gegen die Gewalt der Frustrationen unempfindlich machen.

Ist es nicht an der Zeit, es sich in der Eigenliebe so bequem zu machen, daß jeder, dem es gelingt, sich aus tiefstem Herzen viel Glück zu wünschen, sich zu den anderen gerade durch das Glück hingezogen fühlt, das ihnen zufällt, und daß er sie wegen der Liebe liebt, die sie sich selbst gönnen?

Ich ertrage es nicht, auf Grund der Rolle, der Funktion, des Charakters oder des Momentanen angesprochen zu werden, die mich in den festgelegten Grenzen dessen einsperren, was ich nicht bin. Auf welche Begegnung kann ich an einem Ort hoffen, wo der Zwang, auf Repräsentation bedacht zu sein, verhindert, daß ich jemals dort bin?

Mir kommt es allein auf die Gegenwart des Lebenden an, wohin alle Freiheiten streben, die kein Urteilsspruch in Haft zu nehmen vermag.


Das Lösen der inneren Fesseln

Die ohne Antwort gebliebenen Fragen sind meistens Knoten, die am besten die Zeit lösen kann: Nachdem sie durch die Verdrehungen einer verkehrten Welt durcheinandergebracht wurden, werden sie in dem Augenblick wieder aufgelöst, da das Lebende sich zurechtmacht.

Wie das Unlösbare einer Logik folgt, die nur im Tod ihre letzte Lösung findet, so gibt es für jede Frage einen unerhörten Nachklang, den das Gefühl der Freude und des Glücks mit sich bringt. In diesem Sinne ist nichts bedeutsamer als ein zärtlicher Blick, die Tasse Kaffee am Morgen, ein Trio von Boccherini, eine Arie von Mozart, ein durch das Laub dringender Sonnenstrahl, die flüchtige Berührung einer geliebten Hand oder der odor amoris, der vielsagender als Liebesworte ist. Gerade hier kommen so viele Begierden, die durch die Umstände, die ihrer Erfüllung entgegenstanden, entmutigt wurden, wieder zu Kräften. Gerade hier ermahnen sie sich, dem Verzicht nicht nachzugehen und immer weiter zu begehren, und befreien die durch den täglichen, unentwirrbaren Selbstzweifel gestellten Fragen von der verdrehten Bitterkeit und Unzufriedenheit.

Die Lust bricht die lineare Zeit, in der das Leben im Rhythmus der Ökonomie gemäß der Kette des Tausches und der Ratenzahlungen der immanenten Justiz verfließt. Das, was aus Zwang und Not fällig wird, kann nur der kostenlose Genuß verstehen und es untrennbar damit verändern.

Die Lust ist die Quelle eines unerschütterlichen Selbstvertrauens, das genaue Gegenteil des Glaubens an einen Gott oder an eine Sache, d.h. an die Ökonomie, welche die Welt lenkt. Ein erfülltes Begehren erzeugt zehn andere mit demselben Glücksversprechen. Deshalb findet der glückliche Mensch in sich keinen Grund, den Tod oder die Bestrafung irgendeines anderen zu wünschen.


Gegen den Respekt, den man dem Leben schuldet

Wollt ihr, daß das Leben weiter verachtet wird? Dann erzwingt den Respekt vor ihm! Ist nicht das alte Gebot "Du sollst nicht töten!" der Gedenkstein aller Massengräber?

Immer wenn der Erwachsene sich als autoritärer Lehrmeister des Kindes aufspielt, überträgt er das eigene Unverständnis auf das Kind. Als Beweis sei hier nur jene so lange als Wesenszug der Kindheit betrachtete Grausamkeit angeführt, die niemals etwas anderes als die Wirkung einer bestimmten Erziehung gewesen ist.

Das Verhalten eines zweijährigen Kindes als Sadismus zu bezeichnen, wenn es aus eigenem Antrieb eine Ameisenstraße zertritt, gehört zu den Abwegigkeiten eines so weit vom Lebenden getrennten Denkens, daß es den Stempel des Todes gerade dort sieht, wo das Leben tastend nach seinem ungewissen Weg sucht.

Indem das Kind die hin und her laufenden Insekten zertritt, macht es sich eigentlich mit dem Geheimnis von Bewegung und Bewegungslosigkeit vertraut. Unter seinem Fuß hält die sich fortbewegende Kolonne an und erstarrt zu einer punktierten Linie. Derselbe spielerische Weg zur Erkenntnis reizt es, die Katze am Schwanz zu packen oder die Blätter einer Pflanze abzureißen. Wozu dann der einstimmige Tadel, die Flut der Vorwürfe und die betrübte Empörung? Sie bewirken die Verwandlung einer Erfahrung, der nur das Urteilsvermögen fehlte, in einen Zustand des Unbehagens, wo das Schuldgefühl sich zusammen mit dem heimlichen Reiz des Verbotes einschleicht.

Die Lust an einer unschuldigen Entdeckung läßt das Kind plötzlich unter einem mißbilligenden Medusenblick erstarren. Man hört gerade in dem Augenblick auf, es liebzuhaben, in dem neue Beobachtungen Liebe gebraucht hätten, um interpretiert zu werden und in ein breiteres Wissen einzugehen. Die plötzliche Unterdrückung bringt einen Reflex der Übertretung in Gang, die Lust wird auf der Leimrute der Angst gefangen und ein weiterer Stein kommt zur neurotischen Festung der nächsten Jahre hinzu, in der die Genüsse sich einschließen werden, um sich selbst zu quälen, zu zerstören und negativ zu befriedigen. Dort fängt der gewöhnliche Sadismus an.

Immer schreibt die Kaufmannslogik der Konkurrenz all dem Klugheit zu, was das Gegenteil einer etablierten Dummheit zu sein behauptet, wo es in seiner Modernität doch dieselbe, bloß umgekehrte Dummheit darstellt. So ist durch die Tatsache, daß das autoritäre, unterdrückende Verhalten der Erwachsenen unaufrichtige und verschlossene Kinder hervorbringt, eine Zeitlang die Theorie des "Gewährenlassens" in Mode gekommen, die die amerikanische Pädiatrie erfolgreich unter das Volk brachte: Als ob die dem Kind gewährte Freiheit, sich abzureagieren, indem es Tiere quält, nicht einschlösse, daß es gleichzeitig die Auswirkung des Schuldgefühls und der elterlichen Frustration erleidet. Allerdings diente eine freimütige und notwendige Grausamkeit sehr wohl den Absichten einer Generation, die damit beschäftigt war auszuprobieren, wie sich Napalmbomben auf das Vorrücken der vietnamesischen Ameisen auswirkten. Jedes Mal, wenn ein soziales Verhalten mit Hilfe der Natur gerechtfertigt werden soll, veranschaulichen seltsamerweise Beispiele aus dem Pflanzen- und Tierreich die Aneignung, das Gesetz des Stärkeren oder den Konkurrenzkampf - alles recht nützliche Dinge für die Ökonomie.

Wenn der experimentierende Umgang mit Menschen und Dingen das Risiko der Grausamkeit enthält, gehört es dann nicht zum Wesen einer menschlichen Erziehung, dem vorzubeugen? Es ist weder notwendig, einen Menschen aus dem Fenster des fünften Stocks zu stürzen, um das Vorhandensein der Schwerkraft zu beweisen, noch muß man einen töten, um Bewegung und Unbeweglichkeit zu erklären.

Genau wie die Jagd mit der Kamera vom Töten entbindet und das Vergnügen steigert, durch die Wälder zu laufen, sich auf die Lauer zu legen und einen Augenblick des Lebens festzuhalten, genauso verbreitet sich nach und nach ein Bewußtsein des Lebenden. Es knüpft ein feines Netz stillen Einverständnisses zwischen dem Selbstgenuß und der Pflanze, dem Kristall, dem Tier, der Linie einer Landschaft, der Form einer Wolke, dem mit handwerklichem Können geschaffenen Gegenstand.

Das Kind, das eine Schale aus feinstem Kristall zu Boden wirft, erlebt die Grenzen eines bestimmten Materials und die Grenzen einer ihm zugesicherten Liebe. Kommt zur Feststellung der Zerbrechlichkeit die scharfe Rüge hinzu, öffnet sie weniger die Türen der Erkenntnis als diejenigen der Angst und der krankhaften Lust zu zerstören, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Dagegen erzeugt das vom Kind leicht wahrnehmbare Gefühl, es habe ungeschickt, aber nicht schuldhaft gehandelt und dürfe sich weiter in der Sympathie geborgen fühlen, jenes Verständnis, das eigentlich das menschliche Verständnis schlechthin ist. Die Qualität des Glases, seine Form, sein Licht, das geheime Leben - vom Vergnügen, es zu benutzen, immer wieder erneuert verdeutlichen eine Gegenwart, die die Allgegenwart des Lebenden ist: eine Allgegenwart, die einst von Göttern, Himmel, Geist und Intellekt usurpiert worden ist.


Eine doppelte Entwicklung kündigt das Ende des morbiden Paares an, das Arzt und Kranker bilden. Einerseits nimmt der Kranke wahr daß er Arzt ist, ohne es zu wissen; andererseits, daß er genauso wie der Arzt ein Lebender ist, der Angst vor dem Leben hat.

DER NIEDERGANG DER MEDIZIN

Niemals zuvor hat die Medizin ihre Macht so überlegen dem Tod und dem Leiden aufgezwungen, und niemals zuvor erschienen ihre Bemühungen gegenüber dem Stempel der unheilbaren Krankheit so vergeblich, mit dem der Überlebensschmerz den Körper entwertet.

Die Wahrheit ist, daß die Medizin alles außer dem Wesentlichen - der Müdigkeit, immer und überall arbeiten zu müssen - besiegen kann. Was für eine Verurteilung stellt der Krebs dar, bei dem die durch den Schatten des Todes panisch gewordenen Zellen in einer übertriebenen, selbstmörderischen Lebensreaktion wuchern! Und was für eine Herausforderung ist Aids, das dem Triumph der Immunhygiene den absoluten Zusammenbruch der Immunität des Organismus entgegenstellt!

Die Medizin ist ein Abbild der Warenzivilisation. Auf ihrem Höhepunkt angelangt, läßt sie die Fanfaren des Wohllebens an allen Ecken und Enden jener Welt erklingen, in der die Arten verschwinden, die Luft durch chemische und nukleare Verseuchung vergiftet wird und Düngemittel den Boden unter dem Vorwand, ihn zu verbessern, unfruchtbar machen.


Macht und Ohnmacht der Medizin

Nachdem die Medizin den Gipfel der Wirksamkeit und der Wirkungslosigkeit erreicht hat, fällt sie von ihrem hohen essentiellen Anspruch herab, um sich in einer existenziellen Wirklichkeit wieder aufzurappeln: der krankhaften Beziehung des Einzelnen zu sich selbst.

Das 19. Jahrhundert hatte die Kunst des Kurpfuschers zur Wissenschaft vom Menschen erhoben und damit weniger den Fortschritt des Wissens als einen Quotenanstieg auf dem Markt des menschlichen Fachwissens anerkannt.

In den Zeiten, wo tausend Menschen nicht einmal einen Sargnagel wert waren, ging der Ruf des Arztes kaum über den des Barbiers, des Quacksalbers und des Henkers hinaus. Erst als die knauserige Moral der kapitalistischen Entwicklung das menschliche Wesen mit derselben Aufmerksamkeit wie ein Geldstück zu betrachten anfing, konnte der mit Hochschuljargon polierte Knocheneinrenker es zum Status eines Technikers der mühseligen Wirksamkeit bringen und auf Geheiß der beschleunigten Industrialisierung zum Spezialisten des arbeitenden Körpers werden. Während der aus den Bergarbeitersiedlungen herausgepreßte Mehrwert den Fortschritt der Forschung bezahlt, stellt sich deutlich heraus, daß der bevorzugte Gegenstand der ehrwürdigsten Wissenschaft im allgemeinen die Maschine ist und im besonderen die Mechanik des Menschen, die jene so nützlich verlängert.

Man stelle sich die Beliebtheit der Medizin vor, als sich aus der Produktions- eine Konsumtionsmaschine abspaltete und die pharmazeutische Industrie die Gesundheitsfürsorge demokratisierte, nachdem sie im Proletariat einen breiten potentiellen Markt entdeckt hatte.

Der lediglich in hohem Ansehen stehende Arzt wird von nun an unentbehrlich. Seine Funktion wird zum Wohlbefinden aller bürokratisiert, seine bisher karitative Aufgabe wird sozialistisch. Er ist in einer Gesundheitsbehörde aktiv, die als "Sozialversicherung" darüber wacht, daß diejenigen, die Tag für Tag immer mehr am eigenen Tod arbeiten, nicht ohne Arznei bleiben.

Doch schon zeichnet sich der Niedergang ab. Die bürokratische Routine, die Macht der pharmazeutischen Monopole, die Zersplitterung der spezialisierten Therapien fallen mit einem übertriebenen Gesundheitsschutz zusammen, der im Gegensatz zum Unbehagen in der Kultur steht. Gegenüber einer Arzneimittelkunde, die den Magen heilt, indem sie den Nieren schadet, und an derselben industriellen Macht teilhat, die Erde und Menschen denaturiert, verstärkt sich das Mißtrauen.

Hinzu kommt noch der Bankrott des Staates als Schutzmacht, der unfähig ist, noch länger jene Sozialversicherung zu garantieren, die das Proletariat in den hochentwickelten Warengesellschaften zu seinen Errungenschaften zählte.

Kurz gesagt, Verdrossenheit dringt immer weiter auf den Markt von Tod und Krankheit vor, und die öffentliche Meinung schwankt zwischen Besorgnis und Erleichterung bei der Vorstellung, er könne verschwinden: Sie ähnelt einem Rekonvaleszenten, dem versichert wird, er könne ohne Krücken gehen, und der es nicht zu glauben wagt.


Die parallele Medizin

Der Zusammenbruch des herkömmlichen medizinischen Marktes hat nicht versäumt, die Entwicklung eines Parallelmarktes zu fördern. So wie die am Rande sich entwickelnden "sanften" Industrien lüstern nach dem Markt der immer mehr in Verruf kommenden "harten" Industrien schielen, so wimmelt es von Alternativmedizinen, die sich anschicken, die immer umstritteneren chirurgischen und chemischen Therapien zu verdrängen.

Das schon seit den sechziger Jahren vorhersehbare Phänomen fügt sich in eine Warenlogik ein, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein bewußt wurde: die Verschiebung von der rasenden Produktion auf die beschleunigte Konsumtion, den Übergang von der Autorität zur Verführung, von der Tyrannei zur Laxheit, vom Dogmatismus zur Öffnung, von der teuer zu büßenden Übertretung zum billigen Hedonismus.

Meistens sind die Krankheiten eine Art von Arbeitsunfall. Sobald der Körper nur noch widerwillig, bei jeder Witterung und auf jedem Gelände wie eine Produktions- und Konsumtionsmaschine funktioniert, stockt er, blockiert und frißt sich fest. Er flieht aus dem Streß des Arbeitstakts und einer ihm plötzlich unsinnig erscheinenden Geschäftigkeit und sucht Zuflucht, Erholung, Betäubung oder Vergessen im Schnupfen, im Infarkt, im Knochenbruch, in der Hemiplegie und im Krebs. Paradoxerweise ist in der Medizin der Eingriff ebenso unentbehrlich wie schädlich. Sie repariert die Maschine für neue Leistungen auf der Strecke der Rentabilität, wo das automatische Verhalten den Niedergang des Lebens mit sich bringt.

Obwohl die sanfte Medizin sich in dieselbe lukrative Tradition wie ihre Gegenspielerin stellt, öffnet sie einer Kostenlosigkeit die Tür, die sie eines Tages absetzen wird. Dies gilt übrigens auch für die Techniken, die sich vom Reichtum der Sonne, der Pflanzen, des Bodens, des Windes und des Meeres neue Energien erhoffen.

Der Widerspruch, an dem sie festhalten, indem sie für eine anderswo geforderte natürliche Kostenlosigkeit bezahlt werden wollen, wirkt aufschlußreich. Er unterstreicht die krankhafte Dualität des Gesunden und des Ungesunden, er zeigt konkret, wie derjenige, der die Gesundheit will, auch die Krankheit will.

In ihrem Vorhaben, die Verhaltensweisen wieder natürlich zu machen, haben die gewaltlosen Heilverfahren die Meinung verbreitet, jeder sei selbst die Quelle seiner Vitalität und seiner Kraftlosigkeit und greife bewußt und unbewußt - jedenfalls mehr, als er zuzugeben angeleitet wurde - in den Konflikt ein, dessen ständiges Übungsgelände und Schlachtfeld sein Körper ist.

Wo die klassische Medizin die schwere Artillerie einsetzt, um die Krankheit zu zermalmen - und sollte der Kranke dabei zugrunde gehen -, fordert die Guerillataktik der sanften Medizin ein Mitbemühen des Patienten am Heilverfahren. Sie bringt ihn dazu, zu kämpfen, um gesund zu werden, und zeigt ihm, daß er dem Äskulapstab ähnelt, an dem sich die beiden Schlangen der Gesundheit und der Krankheit emporranken.

Während der Arzt immer weniger an die Medizin glaubt, gelangt der Patient zu der Meinung, er sei fähig, seine Beschwerden zu beenden und sich selbst zu behandeln, indem er den Heilkundigen - mit oder ohne Diplom - nur als Placebo oder als Schutzmittel gegen den Zweifel benutzt, der aller vernünftigen Einsicht nach seine Erfolgsaussichten verschleiern kann.

Ob das Leben damit einen guten Tausch macht, bleibt ganz unsicher. Sein eigener Arzt werden, heißt das nicht einfach, seine Krankheit verwalten lernen? Seinen Tee zusammenbrauen, das tariflich geregelte Sortiment an biologisch reinen Produkten kaufen, sich einer Diät unterziehen und des Alkohols enthalten - das macht aus dem Gesundheitsapostel den aufgeklärten Konsumenten einer latenten Morbidität. Man wähnt, bei der Autonomie des Individuums angelangt zu sein, und man endet bei der Selbstverwaltung der eigenen Gefängnisse.


Die Sprache des Körpers

Derjenige, der den Pakt mit dem täglichen Tod wie ein Verhängnis annimmt, kann mitnichten sicher sein, daß die chemische Medizin nicht genau so viel, wenn nicht mehr als die Pflanzenheilkunde taugt. Für einen an Gewalt und Vergewaltigung gewöhnten Patienten hat der vom Arzt versetzte Faustschlag mehr Aussichten zu überzeugen und zu heilen als die süßlich-weiche Annäherungsmethode der neuen Praktiker.

Außerdem ist die Sache schon im voraus abgemacht, sobald der Erwachsene sich der Medizin wie der Brust seiner Mutter oder dem männlichen Schutz seines Vaters zuwendet, sobald er darauf verzichtet, seine Untersuchung auf den Spuren der entstehenden Krankheit allein durchzuführen und die Sprache des Körpers mit der liebevollen Aufmerksamkeit eines Grammatikers abzuhorchen. Ist es nicht die Hauptsache, man verleiht solchen Fragen wie: "Warum bin ich dabei, krank zu werden?" oder "Warum das Herz und nicht die Nieren, warum gerade dieser Schmerz, diese besondere Erkrankung?" eine eher spielerische als dramatische Wendung? [Das französische Wort "affection" (Erkrankung) bezeichnet bemerkenswerterweise einmal das "Übel", ein andermal die "Liebe", so als ob es zugleich das von der Abwesenheit der Liebe herrührende Übel und die Liebe, die vor dem Übel schützt, enthielte.]

Es wäre eine nützliche Übung für den Scharfsinn, Wortschatz und Satzbau zu entdecken, durch die der Körper sich ausdrückt, solange er sprechen darf. Wenn wir wenig Interesse an seinen Äußerungen des Wohlbefindens zeigen, ist er dann nicht gezwungen vor Schmerzen zu schreien, um sich Gehör zu verschaffen? Was ist der Sinn eines beginnenden Rheumatismus, einer Migräne, eines pochenden Schmerzes, der Verrenkung und der Übelkeit? Warum diese Ungeschicklichkeiten, bei denen wir Gegenstände zerbrechen, als ob etwas in uns sich verknotet hätte und zu zerspringen droht? Jeder soll seine eigene Antwort finden, da jeder Körper seine eigene Sprache spricht, auch wenn der Konflikt überall derselbe ist: In ihm stehen sich der Wille zum Leben und der ihn verneinende Todesreflex gegenüber.


Die Angst vor dem Tod ist nur die gewöhnliche Verkleidung der Angst vor dem Leben. Der ganze Nutzen der Medizin besteht darin, die eine abzuschwächen, indem sie die andere verschlimmert.

Die Geburt des Krankhaften

Mit welcher Anteilnahme und mit welcher Inbrunst nehmen die Menschen der Ökonomie manchmal im stillen die Krankheit auf, in der Überzeugung, sie seien dazu geboren, ein paar vergängliche Momente des Glücks mit jahrelangem Unglück zu bezahlen! Die Lebenslust ist derart durch Arbeit und Feilschen entwertet worden, daß sie selten den Kopf zur Tür hereinsteckt, ohne einen Reflex des Todes und des Scheiterns auszulösen.

Am Anfang war das Spiel, und dann wurde das Spiel zum Drama. Wenn es darum geht, sich der Schule oder einer lästigen Arbeit zu entziehen, Liebkosungen zu erschleichen, die ihm seiner Meinung nach vorenthalten werden, glänzt das Kind in der Kunst, krank zu sein - mit derselben Virtuosität wie ein Schachmeister. Diese keineswegs vorgetäuschten, sondern gespielten Krankheiten bestehen dann so lange, bis die gefühlvolle Aufmerksamkeit sie beendet, wenn sie sich nur mit der wünschenswerten Klugheit darum bemüht.

Es wird Tag für Tag soviel Energie in die selbstmörderische Resignation investiert, daß die Gewohnheit, sich den Tod in den Kopf zu setzen, nur noch auf ein Zeichen der Müdigkeit und der Verwirrung wartet, um den Betroffenen in der schützenden Krankheit zu verpuppen und seine Regression in den zarten Zustand der Kindheit mit irgendeinem Gebrechen zu rechtfertigen.

Nur eine vergnügte Hellsichtigkeit scheint imstande zu sein, einer so unglückseligen Disposition ein Ende zu setzen und die morbide dramatische Überspanntheit der ersten Beschwerden lächerlich zu machen. Um von der fröhlichen Wissenschaft begnadet zu sein, muß man sich allerdings auf einen nicht zu unterdrückenden Willen zum Leben stützen, ohne den die Einsicht in die Gründe nur ein Witz des Verurteilten am Fuß der Guillotine ist. Wir leben doch in einem ständigen paradoxen Zustand: Wir schüren den Haß, um geliebt zu werden, wir halten verbissen daran fest, ein Leben zu verlieren, dessen Niedergang alle unsere Gesten beweinen, und wir betrachten die Erschöpfung durch die Arbeit als notwendig, während uns die Anstrengung zum Genuß wertlos erscheint. Wie nah steht uns, trotz all der Verschwörungen und Verhexungen der Krankheit und der Langeweile, die Schöpfung des Lebenden! Wie sehr besitzt ein Augenblick der Liebe und der Freude uneingeschränkte Macht: Indem er den ungesunden Dunst auflöst, an dem Gefallen zu finden wir uns gewöhnt haben, kann er den sich am Morgen abzeichnenden Krebs wie in einem Spiel, dessen Regeln nicht mehr gelten, am Abend zunichte machen.

Stellen uns nicht die Augenblicke - und seien sie noch so außergewöhnlich -, in denen wir uns selbst gehören, mehr Wissen und Klugheit bereit als all die Therapien, die die Heilkraft aus einem unheilbaren Lebensschmerz züchten?


Die Drogen

Nachdem die Kriege, die Unruhen und die Revolutionen, die dem tief verwurzelten Todeskult als Vorwand und Notbehelf dienten, seltener geworden sind, bleibt nur noch der Kampf eines jeden gegen sich selbst als ultima ratio, um der Lebensverweigerung Nahrung zu geben. Aus diesem Konflikt herauszukommen, ist heute leichter als in vergangenen Zeiten, in denen er sich inmitten der gewaltigen Feuersbrünste zwischen den Nationen und den sozialen Klassen heimtückisch klein machte. Mit einer Einschränkung: man unterschätze nicht, wie weit der Waffenmarkt vor dem Drogenmarkt zurückgewichen ist - was nicht nur Heroin und Kokain betrifft, sondern mehr noch die Medikamente, deren ganz offizieller Dealer der Apotheker ist. In vieler Hinsicht hat die todbringende Propaganda nur ihr Wirkungsfeld verlagert - eher nach links.


Die Entwertung des Leids

Der kleiner werdende Kredit, der heute dem Schmerz gewährt wird, zählt gewiß zu den beruhigenden Zeichen unserer Epoche. Es wurde Zeit, daß er allmählich die verruchte Bedeutung der Erlösung einbüßt. Der aus dem Sortiment der positiven Werte vertriebene Schmerz stachelt weniger zu Mitleid und hilfsbereiter Linderung an, als daß er zur Entscheidung führt, willentlich Schluß mit seinem Wehklagen zu machen und ihn auszurotten, noch bevor er durch Gewöhnung wie eine Droge wirkt.

Wie vielen Generationen hat nicht der Schmerz mit seinen Jeremiaden die Nerven aufgerieben? Spielte er doch im Gefolge des Neides, des Strebertums und des Aufstiegs das Klageweib, hielt sich für den Kummer schadlos, indem er ihn den anderen aufdrängte, verdarb die Eßkultur durch das Magengeschwür und erklärte den Dorn zum Glanzstück des Rosenstocks.

Für seine Frömmler und Zuhälter gibt es keinen Erfolg, kein Prestige und keine Macht mehr. Die Arbeit heiligt nicht mehr den Idioten, der sich ihr voll und ganz hingibt, und wenn es immer noch vorkommen kann, daß ein Unglücksfall, eine Krankheit oder ein Mißgeschick jemandem Geltung verschaffen, so ist dies nur noch ein lächerlicher Witz, wie man ihn in den Melodramen der Vergangenheit findet.

Selbstverständlich fällt die Entwertung des Schmerzes mit dem Verfall der Funktion zusammen, die ihm in der Ökonomie zugeteilt war. Die Ideologie eines den Göttern, dem Staat und der Moral nützlichen und angenehmen Leidens paßte mit der unerläßlichen Selbstaufopferung auf dem Altar der Produktion aufs beste zusammen. Dagegen hat eine entschieden gegensätzliche Ideologie den Konsumzwang verführerisch herausgeputzt. Der asketischen Beschwörung: "Gebt euch Mühe - nichts ist ohne Schmerz zu bekommen!" folgte das muntere: "Macht euch das Vergnügen!" Um die Ersatzmittel des Vergnügens zu verkaufen, schien es nicht allzu leichtfertig, der Angst, der Bitterkeit und Unbefriedigtheit, die die Rechnung der merkantilen Lust verdoppeln, die Maske des Lächelns zu verleihen.

Nur allzu lange ist das natürliche Leid - so wie es aus der Dialektik des Lebens mit ihrer vom Zufall abhängigen Verteilung von Lust und Unlust hervorgeht - mit dem denaturierten Leid verwechselt worden, das durch das Verbot des Genusses, durch die Reduktionsmechanismen der Arbeit, durch das dem Tausch innewohnende Schuldgefühl und jene Perspektive ausgelöst wird, die Wesen und Dinge in eine Linie bringt, indem sie den Tod als Konvergenzpunkt nimmt.

Wenn es stimmt, daß die Krankheit die durch die Frustration im Körper geschaffene Leere ausfüllt - daß sie die Kehrseite eines Gefühls der Fülle ist -, so bedeutet das auch, daß der Genuß das absolute Schutzmittel gegen die Angst, die krankhaften Zustände und das vorzeitige Sterben ist.


Die Heilkraft des Genusses

Ich halte folgende Beobachtung einer Kinderärztin für beispielhaft: Um den durch das Wechseln eines Verbandes verursachten Schmerz zu lindern, streichelte sich ein sechsjähriges Mädchen die Brüste und entdeckte dabei die schmerzstillende Kraft des Lustgefühls. Durch dieses Benehmen, das sie für obszön hielt, peinlich berührt, verlangte die Mutter, das Mädchen solle aufhören. Es ehrt die Ärztin, daß sie sich der mütterlichen Zurechtweisung widersetzte und die Berechtigung eines solchen Verhaltens erklärte.

Der Genuß vertreibt den Schmerz - dies ist eine offenkundige Tatsache, die es verdient, die Grundlagen der wissenschaftlichen Forschung zu verändern. Wenn man annimmt, daß der Patient, der sich heftig gegen den ihn quälenden Schmerz auflehnt - und zwar noch bevor dieser ihn überwältigt -, seine Genesungschancen um 70% erhöht, so wird man zugeben, daß eine bestimmte Geistesverwirrung darin liegt, den umgekehrten Weg zu gehen. Dieser Weg geht eigentlich von einem krankhaften Zustand aus, in dem der vom Leben ferngehaltene Genuß - ob man es will oder nicht - seine Befriedigung im Leid, im Opfer und im Tod sucht und dabei vorgibt, eine wie auch immer geartete Gesundheit wiederherzustellen.

Wann endlich wollt ihr der sadomasochistischen Schule, der vom Geist gelenkten Erziehung, der Einführung in die Zwangsarbeit und jenem Lernprozeß kündigen, dessen Fortschritt auch derjenige des Gefühlsmangels ist, so daß der klügste Therapeut selbst noch nicht weiß, wie sehr die eigenen Krankheiten die Wahl einer Sehnsucht sind?


Der Wille zum Leben und sein Bewußtsein

Auf einem Gebiet, dessen Kontrolle die Medizin sich durch Mißbrauch vorbehalten hat, würde das Wissen darin bestehen, den Dialog mit dem Körper zu führen. Es scheint, daß die Krankheit dort spricht, wo das Begehren zum Schweigen und zur Selbstverleugnung gezwungen wurde. Es bleibt jedem überlassen zu entdecken, wo und wie eine entstehende Wollust in einer Ecke zusammengekauert und zu schmerzhaften Knoten geschrumpft ist, so daß die Medizin keine andere Wahl hat, als zu schneiden, da sie die Zustimmung des Körpers nicht erlangen kann.

Doch aus dem getrennten Denken, wie hellsichtig es auch die Spalte erkennen mag, in der das festgeklemmte Begehren weint, wird niemals die Fähigkeit entstehen, das Gleichgewicht des Lebens im Körper wiederherzustellen. Nur die Leidenschaft für das Lebende und die Eigenliebe können den Zweifel und die Angst überwinden, die von Kindheit an ins Herz geträufelt wurden. Nur die Leidenschaft, die sich aufmerksam jeder Lust des Tages und der Nacht widmet, kann die primären Triebe in jene Verfeinerung der Begierden umwandeln, welche die einzige Substanz des Menschlichen ist.

Ein neues Bewußtsein entdeckt seine Praxis. Immer weniger glaubt der Arzt an die Medizin, immer mehr ahnt der Kranke in seinem Leiden die Folge täglicher Verstöße gegen die Lebenslust; der Körper seinerseits lehnt allmählich seinen herkömmlichen Status als Produktions- und Konsumtionsmaschine ab, in der die Leidenschaften im Trichter der Verdrängung und der Abreaktion zerrieben werden. Der Körper als Arbeitsstätte hat ausgespielt. Kein Leid läßt sich rechtfertigen, da kein Genuß einen Verzicht verlangt. Eine lebende Ganzheit entdeckt die Kraft des Schaffens und des Sichselbstschaffens. Die Träume der Erde und des Körpers sind dieselben, sie zeigen, wie eine erwünschte Wirklichkeit den Göttern der Macht und des Geldes entrissen wird, in der das Leid, die Krankheit, das Verbot und der gesellschaftlich finanzierte Tod kein Bürgerrecht mehr haben.


Das getrennte Denken hat immer nur die Intelligenz des sich selbst verneinenden Lebens produziert

VON DER INTELLEKTUELLEN ARBEIT ZUR FRÖHLICHEN WISSENSCHAFT

Der gemeinsame Triumph von Physik, Chemie, Medizin, Mathematik, Raumfahrt, Biologie, Architektur, Psychologie und Soziologie hat mehr Unterdrückung und Geld gebracht als Glück. Die Wissenschaften haben den Wohlstand innerhalb der Grenzen von Angebot und Nachfrage in alle Welt verbreitet und die menschliche Tätigkeit auf eine Tätigkeit des Marktes reduziert.

Indem sie den Fortschritt und seine Kehrseite anklagen, wollen uns diejenigen foppen, die stolz darauf sind, die Natur bis hin zum Atom auszubeuten und zu vergewaltigen, diejenigen, die aus einem Kern des Lebens eine Energie des Todes gewinnen, die sich als sehr nützlich erweist, Hütten zu beleuchten und den durch radioaktive Verseuchung verbreiteten Krebs zu heilen. Welche Wohltat kann man von einem Fortschritt erhoffen, der von einem auf der Ausplünderung des Lebenden gegründeten Warenprozeß bestimmt wird?


Eine Wissenschaft der Ausbeutung von Mensch und Natur

Wie kann man sich mit einem Frieden zufrieden geben, der den Krieg nur unter der Bedingung fernhält, daß er die Handelsinteressen besser zufriedenstellt? Wie kann man sich mit einem friedlichen Wissen begnügen, das in sein Gegenteil umschlägt, sobald es irgendeinen Profit wittert? Und vor allem, wie kann man es dulden, daß die erfinderische Kreativität zusammen mit der Lust durch das Fallbeil der Rentabilität getötet wird? Von den verschleißfreien Glühbirnen bis zu den kostenlosen Energien sind unzählige Patente, die dem Erfinder zwecks Zunichtemachung abgekauft werden, nur der sichtbare Teil eines Terrors, der über ein Wissen aufrechterhalten wird, das zwar nicht geheim ist, aber der geheimen Wirklichkeit der Begierden innewohnt. Muß es so sein, daß die Schöpfung auf der Suche nach ihren Dichtern immer wieder nur auf die Taschenrechner stößt, die Preise anzeigen?


Die gefälschte Wirklichkeit

Die Ökonomie hat die gesamte Wirklichkeit gemäß ihrer Perspektive eingerichtet. Sie konnte zwar dem Auge, dem Denken, den Gesten, dem Wort und den Empfindungen ihre besondere Richtung aufzwingen, aber ihre Macht ist nicht derart absolut, daß sie uns daran hindert, den ungeschändeten, ihrem Medusenblick entzogenen Teil der Natur wahrzunehmen.

Eine Wirklichkeit wurde als die einzig bestehende ausgegeben, während sie doch in ihrer dürftigen materiellen und geistigen Dualität nur jene Wirklichkeit ist, die die zur Ausbeutung der Natur notwendige Arbeit bis in die mechanische Konditionierung des Körpers hinein fabriziert. Ihre Unmenschlichkeit mußte sich auf empörende Art von den humanistischen Ansprüchen, die sie hervorbringt, abheben, damit die Leute sich heute endlich von einem abstrakten Wissen abwenden und anfangen, über ihre Begierden zu diskutieren. Die Erde und mein Leben sind mir Stunde für Stunde viel zu wichtig, um mich noch mit Spekulationen zu beschäftigen, die die Welt dahin führen, wohin ich sie nicht geführt haben möchte. Die echte, noch zu schaffende Wissenschaft ist die des Selbstgenusses - hic, nunc et semper.


Die Mauer des getrennten Denkens oder die Verzweiflung der Wissenschaften

Das Wissen wurde vom Leben getrennt wie der Produzent von seinen Begierden, der Geist vom Körper und die Kopfarbeit von der Handarbeit. Das Denken hatte nur noch das Denken und den abstrakten Menschen zu kennen, eine leere Form also, in die das konkrete Individuum nur dann eingehen kann, wenn es sich entleert.

Das Denken des ökonomischen Zeitalters dreht sich seit zehn Jahrtausenden in dem Kreis, in dem es eingemauert ist und mit dem es die Wirklichkeit der Begierden und der natürlichen Kostenlosigkeit umgibt.

Ein Denken, das das Leben ausschließt und verneint, kommt nur vorwärts, indem es sich selbst verneint und ausschließt. Die Universalbibliothek der Ideen hat ihre Vielfalt auf eine ständige Banalität gegründet, in der sich das Alte als das Moderne und der kritische Geist als neuer Konformismus verkleiden.

Als rebellische Dienerin der Theologie hat die Philosophie einen Angriff gegen sie geführt, der die Vorrangstellung der irdischen Ökonomie vor ihrer himmlischen Darstellung zum Ausdruck bringt. Ähnlich offenbaren der Verfall des Heiligen und der Sieg der entheiligten Werte das Ende der Agrarstruktur und die Eroberung der Welt durch die Warenmodernität. Nichts ändert sich wirklich außer der Form einer stets unveränderlichen Unterdrückung.

Jedesmal, wenn der Intellektualismus Licht auf das Projekt einer menschlichen Befreiung warf, hat er es sofort wieder verdunkelt, indem er für den Geist und gegen das Chaos der Materie - wohlgemerkt gegen die körperlichen Triebe - Partei ergriff. Von Anfang an hat die Ernüchterung alle Vorhaben der Entmystifizierung zum Straucheln gebracht; sie ahnten, daß der Abbau einer Lüge nur geschah, um eine andere aufzubauen.

Es ist das Drama des getrennten Denkens, ohne den Körper nichts zu sein und ihn so zu behandeln, als ob er etwas sei, was keinen Wert habe. Bekanntlich konnte die Religion das letzte Wort gegen die sie verdrängende Philosophie noch lange Zeit gerade dort behaupten, wo die Ideen ihre Unfähigkeit, das Leben zu verändern, zugeben mußten. Dort brachte sie die Angst vor dem Tod und den Trost zu sterben als letzte Wahrheit zusammen.

Das Gefühl, daß ein Leben zu schaffen sei, ist der Philosophie, den Ideologien und den Wissenschaften genau so fremd wie der Theologie geblieben. Man versteht, warum die Intelligenz so oft in der Feststellung des Scheiterns geglänzt hat: Indem der Denker die Menschen und die Dinge erklärte, beschwor er das eigene, hoffnungslos unerforschte, weil nicht auf den Begriff reduzierbare Leben. Die Fabel über die Götter, den Himmel und den reinen Geist ist gewissenhafter untersucht worden als das Dasein der von der Erde stammenden Menschen. Es gibt kein Geheimnis des Lebens, wohl aber ein sorgfältig gehütetes Geheimnis über die Arbeit, die das Leben verneint und in eine Nacht zurückdrängt, in der die Triebe sich zu grauenerregenden Ungeheuern aufwerfen.

Gewiß sollte man sich heute über eine Erkenntnis freuen, die stärker auf Natur und Körper bedacht ist. Aber wenn so viel Wissen auch dem Leben sehr nützlich sein mag, wird es doch auf dem Weg jedes einzelnen, sein Schicksal zu schaffen, nicht weiter benutzt. Es bleibt in den Händen von Leuten, die sich eher um Prestige und Geschäftemacherei kümmern, als daß sie sich für die Alchimie der ursprünglichen Libido und die Verwandlung der menschlichen Bedürfnisse begeistern.

Es ist erfreulich, daß der Zusammenbruch der Macht eine Demokratisierung des Wissens nach sich zieht. Gewiß wird die Kultur scheibchenweise und per Sonderangebot abgesetzt, wobei man von einer beliebten Idee ganz richtig sagt, sie sei ein "Kassenschlager". Allerdings hat das, was bezahlt werden muß, nur einen geringen Anteil an den Momenten des Glücks, die man sich selbst schafft.

Was für ein Reichtum hingegen in der Rumpelkammer der Wissenschaften und den Lagerhallen des getrennten Denkens! Welch leidenschaftliche Neugier wird eines Tages von dem angehäuften Kram Besitz ergreifen, um ihn auf dem Weg zu den eigenen Lüsten einzubeziehen und zu benutzen!


Die Inflation des abstrakten Wissens gibt weder dem Gelehrten recht, der alles über die Welt und nichts über sich selbst weiß, noch dem Unwissenden, der, da er alles von seinen Begierden zu lernen hat, sich nur weiterbildet indem er sie unterdrückt.

Die Allergie gegen ein gewisses Wissen

Man konnte in den achtziger Jahren sehen, wie neue Generationen sich einer Art von Unwissenheit und Unbildung rühmten, was streng von Intellektuellen getadelt wurde, die in ihrer unerschütterlichen publizistischen Gelehrsamkeit verankert waren. War das nicht die Ablehnung eines Wissens, das, seines Gebrauchswertes beraubt, als Tauschwährung für müßige Autoritäts- und Profitgeschäfte diente? Wenn es schon widerlich war, Kenntnisse erwerben zu müssen, um zu Geld und Würden zu gelangen, dann kam zur Verachtung noch die Lächerlichkeit hinzu, sobald die Belohnung selbst nicht mehr sicher noch anerkannt war.

Wie bedauerlich es auch gewesen sein mag, für die Unwissenheit Partei ergriffen zu haben, so wurde in diesem Fall doch die Ablehnung eines von außen aufgezwungenen Wissens klargemacht, das im Namen unfehlbarer Päpste - Marx, Freud und tutti quanti - voller Erbarmen verteilt wurde. Es war ohne Zweifel auch eine Absage an die ökonomischen Kriterien, die die Kenntnisse gemäß der Nachfrage des Stellenmarktes und mithin gemäß der sklavischen Haltung bewerten, zu der die Schaffenskraft sich erniedrigt, wenn sie sich der Arbeit unterwirft.

Jeder nimmt jetzt deutlich wahr, bis zu welchem Punkt die Kenntnisse in ein System sozialer Integration eingegliedert sind, in dem alles aus Pflicht und nichts aus Lust unternommen wird. Wenn die Schüler so mühsam lernen und Peitsche, Verwünschung, Flehen und Verlockung dazu nötig sind, so kommt das daher, daß es zwischen den Anforderungen der Arbeit und der Anstrengung, die durch eine wache, spielerische und bezauberte Neugier hervorgerufen wird, nichts Gemeinsames gibt. Solange die Wissenschaft ihren Lernprozeß auf die lukrative Moral der Arbeit und nicht auf den Genuß gründet, aus dem das Schaffen entspringt, wird das Kind, das aus Sand, Steinen, Brettern, Schachteln und Träumen prächtige Paläste errichtet, selbst aus dem reichsten Material der Erwachsenenwelt nur Städte und Siedlungen bauen, die wie Kasernen, Fabriken und Sterbeanstalten aussehen. Gerade den Kindern, diesen dem Leben am nächsten stehenden Wesen, ein abstraktes Wissen aufzuzwingen, ist keineswegs eine der geringsten Verirrungen der Erziehung. Soll man sich dann noch wundern, wenn die Schule, von der allgemein angenommen wird, sie mache aus ihnen Menschen, vorzeitig gealterte Kümmerlinge hervorbringt, die sich zwar in den Wissenschaften auskennen, aber nicht wissen, was sie wirklich wollen und wünschen?


Das Wissen zum Leben zurückführen

Unaufhörlich hat die Warenexpansion die Wege des Wissens geebnet, und dennoch haben die meisten wissenschaftlichen Kühnheiten mit dem gesunden Menschenverstand gemein, daß sie selten über den Rand des Ladentisches hinausgehen. Das Wissen hat die Einheit des Weltalls wiederhergestellt, indem es ferne Länder entdeckte und den Makrokosmos sowie den Mikrokosmos enthüllte. Diese Einheit hat aber an der religiösen Lüge teil, welche die Erde gewaltsam mit dem Himmel vereinigt und sich an die Stelle der Grundübereinstimmung von Leben und Natur setzt.

Der Rückgriff des internationalen Marktes auf den Hedonismus hat genügt, um zu zeigen, wie gleichgültig der Wissenschaft das Begehren ist, wenn es der Verpackung entkommt, die ihm durch die Forderungen des Konsums aufgezwungen wird.

Einmal mußte diese fortschreitende Verlagerung vom Wahrnehmbaren auf das Geistige, vom Erlebten auf dessen Repräsentation durch eine große Bewegung hinweggefegt werden. Man wollte sich nicht länger um die Reden scheren und konnte endlich zur unbefangenen Neugier des Kindes kommen, das mit dem Finger das berühren will, was es zu kennen wünscht.

Wir können nichts mit einem Wissen anfangen, das dem Reigen unserer Freude und unseres Leids fremd bleibt. Es steckt zuviel Lust darin, die Welt zu entdecken, indem man sich selbst entdeckt, als daß man sich damit begnügt, endlos die Bilanz eines Universums zu lesen und wieder zu lesen, in der allein die Zahlen sich ändern und alles auf ihr Maß beschränken. Es ist wirklich an der Zeit, den Zauber der Kindheit und des Traums in das Arsenal der Wissenschaften einzuführen, damit solch eine erfinderische Fülle nicht weiter mit unserer Bedürftigkeit bezahlt wird. Einer einzigen Forschungsreise, dem Abenteuer in der Galaxie der Begierden, wird es vergönnt sein, die Türen eines toten Horizontes auf die Unendlichkeit des Lebenden zu öffnen.


Die wissenschaftlichen Wahrheiten der Macht

Eine wissenschaftliche Wahrheit, die nicht einem unbestreitbaren Fortschritt des Menschlichen untersteht, drückt nur eine unmenschliche Wahrheit aus und verdient es, ohne Rücksicht behandelt zu werden.

Bedenkt, daß es keine Schandtat gibt, für die das Wissen und die Wissenschaften sich nicht zu diesem oder jenem Zeitpunkt ihrer Herrschaft verbürgt haben. Das Privateigentum, das Vaterland, die Konkurrenz, das Faustrecht, Gott, die Ungleichheit, der Rassismus, die Minderwertigkeit der Frau, die Vortrefflichkeit der Kernenergie haben die Bewunderung von Entdeckungen hervorgerufen und sich mit den Lorbeeren der Wahrheit geschmückt. Niemand hat sich darüber gewundert, daß die Beweise, die ihnen den Rang einer feststehenden Tatsache sicherten, von Gründen abhingen, die umso unumstößlicher waren, als die jeweiligen ökonomischen Forderungen deren Berechtigung bekräftigten.

Die Richtung einer Beobachtung, eines Experiments, einer Theorie ist im Verhalten des Beobachters, Experimentators oder Theoretikers schon vorgegeben. Daß die Wissenschaft an der Ausbeutung der Natur zu lukrativen Zwecken teilhat, daß sie nicht mehr und nicht weniger als eine Arbeit ist, erklärt hinreichend, warum zahlreiche wissenschaftliche Wahrheiten aus einer stillschweigenden Verachtung gegenüber dem Leben als Genuß und als Schöpfung hervorgehen.

Eine solche Verachtung hat je nach den Menschen und den Epochen verschiedene Formen angenommen, es gibt aber nur wenige Beispiele von Wissenschaftlern, deren Dünkel, Starrsinn, asketische Mentalität, Mangel an Großmut und an Wissen über die Liebe die Erfindungen und Entdeckungen nicht mit irgendeinem schändlichen Keim infiziert haben.

Die rassistische Eitelkeit der Sprachforscher und Biologen des 19. Jahrhunderts errichtete auf Grundlagen, die als ausgezeichnet galten, die Wahrheit der Ungleichheit der Rassen. Der fortschreitende polizeiliche Scharfsinn und das Bemühen, die gefährlichen Elemente des gesellschaftlichen Magmas zu isolieren, legen das Fundament für die Soziologie, die Psychiatrie und sogar für die Psychoanalyse. Die Medizin vervielfacht ihre Erfolge, indem sie den Körper einer komplizierten Maschine gleichstellt, deren Geheimnisse sie ergründen will, während gleichzeitig die Geheimnisse der Erde den Bohrtürmen und der Börsennotierung preisgegeben werden; damit bürgt sie einerseits für die Denaturierung, die den Krebs verursacht, und baut andererseits eine lukrative pharmazeutische Industrie zu seiner Behandlung auf. Sogar die als ewig geltenden Wahrheiten werden einer spirituellen Bedeutung und Berufung gemäß sozusagen "fabriziert". So soll z.B. die Schwerkraft die Idee einer göttlichen Uhr, einer mechanischen Perfektion verewigen; der Urknall soll die Gotteshypothese, diesen alten Furz unter der Decke, aufspüren, während ähnliches mit den Errungenschaften der Genetik geschieht, die von Leuten manipuliert werden, deren alltägliches Verhalten man gern kennenlernen würde, wie auch den Anteil, den die Liebe zum Leben darin einnimmt.

Wie könnte eine durch das Leid entrissene Wahrheit nicht das Spiegelbild einer Wirklichkeit sein, die sich unter Schmerz und Qual aufdrängt? Eine Wissenschaft, die, um vorwärts zu kommen, einen Menschen, ein Tier, einen Wald, eine Landschaft, ein ökologisches Gleichgewicht opfern muß, ist eine Wissenschaft des Todes. Ein Forscher, der seine Funktion und seine Rolle auf Kosten seines Lebens bevorzugt - wie z.B. diese "Koryphäen" voller Bitterkeit und Verachtung, die ihr armseliges Spezialgebiet mit Händen und Füßen verteidigen -, wird nur noch zukünftige Friedhöfe entdecken.


Die fröhliche Wissenschaft ist der freie Gebrauch der Kenntnisse durch den Willen zum Leben.

Die fröhliche Wissenschaft

Der Markt der Kultur hat eine beträchtliche Menge von Kenntnissen akkumuliert, mit denen wir nichts anfangen können, da wir unsere Begierden meistens nicht kennen. Es stimmt, daß ein Wissen, das verkauft wird und vom Käufer verlangt, daß er sich von sich selbst entfernt, mich im Grunde nichts angeht. Ein Markt kann seine Kurse ändern, aber niemals das anbieten, womit man das Leben ändern könnte. In einer Wissenschaft, die uns ihrem Wesen nach fremd bleibt, ist jedoch alles zum Greifen nah, da sie aus einem getrennten und gleichzeitig vertrauten Denken hervorgeht, das das Begehren zum eigenen Vorteil nutzen kann. Nichts anderes soll aus dem Gedächtnis gelöscht werden als der Abdruck des Todes - das heißt der Trennung.

Es gibt keine Gelehrsamkeit, kein genaues Wissen, keine Spekulation, keine Träumerei, die nicht jenen phantastischen Geometrien ähnlich wäre, deren ungeahnte praktische Anwendung eines schönen Tages entdeckt werden wird: Sie warten darauf, sich in der Vielfalt der individuellen Schicksale zu verkörpern. Die Sorge um die Erlangung eines Wissens auf den Gebieten, wo der Stachel der Begierde die Neugier weckt, bahnt einem reiz- und liebevollen Lernen und Lehren in dem Maße den Weg, wie das Gefühl der natürlichen Kostenlosigkeit sich durchsetzt. Es geht nur darum, aus aufdringlichem Interesse und nicht mehr aus Zwang Kenntnisse zu erwerben.

Es liegt in der Natur des Kindes, daß es überall herumstöbert und auf alles neugierig ist. Und welche Antworten bekommt es zu hören? Man erteilt ihm eine Abfuhr und bringt es zum Schweigen, um ihm nicht mit verlegener Unwissenheit gegenüberstehen zu müssen mit dem Nebengedanken, es werde später in der Schule ohnehin Computerlösungen eingebleut bekommen, deren Nützlichkeit es nicht mehr erkennt.

Da die fröhliche Wissenschaft an einer leidenschaftlichen Suche teilhat - an der Suche nach dem Gral des Genusses und der Erschaffung seiner selbst -, will sie alles von der Allgegenwart des Lebenden wissen und verstehen, angefangen beim Labyrinth der Begierden, dessen Weg und Mitte jeder von uns ist.

Es ist bekannt, zu welchen bedauerlichen Antworten die unvermittelte Frage: "Die Erfüllung welcher Wünsche würde Sie am glücklichsten machen?" meistens führt. Eine Frage, die sich eigentlich an den Verstand richtet und ärgerlicherweise an die abschreckende Drohung erinnert, die das Kind gerade in dem Augenblick erhält, da es Experimente mit seinen Begierden anstellt: "Weißt du eigentlich, was du willst?" Nein, das Kind weiß es nicht, es bemüht sich darum, es herauszubekommen, aber alle wollen es ihm ausreden. Es wird später nur die Möglichkeit haben, jeden Tag zwischen Kopf und Zahl derselben Münze, der des Verzichtes, zu wählen: d.h. entweder viel Geld haben oder den Seelenfrieden genießen. Aber sich wohlfühlen in seinem Körper und in der Welt?

Da das Kind jetzt allmählich der Kastration durch die Ökonomie entgeht, erleben wir vielleicht eines Tages, wie das Lernen auf jenem ursprünglichen Vertrauen gründet, welches das Gefühl verleiht, seinetwegen und nicht seiner Verdienste wegen geliebt zu werden. Keine Lektion prägt sich ein, wenn sie nicht zunächst dem Begehren angehört und zu ihm zurückkehrt, um es zu vervollkommnen. Verstehen heißt, es auf sich nehmen, die eigene Lust und die Lust von seinesgleichen - das sind diejenigen, die in demselben Sinne verstehen - zu steigern. Weder von Meistern noch von Schülern hängt das Wissen ab, es gehört der Leidenschaft zu lieben an, die die Einheit von Intelligenz und Gefühl entdeckt und wiederherstellt.






III. DIE MATERIA PRIMA UND DIE ALCHIMIE DES ICHS


Die Rückkehr zur Kindheit leitet die Wiedergeburt des Menschlichen ein.

DIE ZWEITE GEBURT DES KINDES

Die Mißbildung, die die Menschen dahinsiechen läßt, geht aus dem Schicksal hervor, das den Kindern vorbehalten ist: Sie werden mit einer Natur geboren und mit einem Charakter groß. Die Kostenlosigkeit der Liebe gibt ihnen das Leben, die Gesellschaft nimmt es ihnen weg - so nimmt das Gift des Umsatzes dem Baum das Laub und der Leidenschaft ihre Reize.

Kindheit: Reichtum des Seins, durch das Haben verarmt, Morgen der Begierden, durch öde Fabriken verdüstert, verkürzte Geschichte einer Zivilisation, die die Kunst, menschlich zu sein, durch die merkantile Tüchtigkeit ersetzt.

Der Tod triumphiert im planetarischen Sieg der Ökonomie, und alles, was verzweifelt, arbeitet an seiner Vervollkommnung. Genug dieser in der Partei der Verstorbenen gereiften Revolutionen! Revolutionär ist, das Lebende zu schaffen. Sind nicht die abgefeimtesten Politiker und Geschäftsleute, die einen seismographischen Sinn für gesellschaftliche Veränderungen haben, darum bemüht, den Schein des Lebenden als letzte ideologische Verpackung für die letzten Waren zu benutzen?

Sie wissen, daß die Zärtlichkeit den Verkauf fördert, sie wissen aber nicht, daß sie nicht käuflich ist, denn sie kennen nur die ökonomische Wahrheit. Die Wirklichkeit der Begierden wird sie überrumpeln. Sie mögen unter das Totengeläut einer sterbenden Gesellschaft noch so sehr die Trompeten des Interesses mischen, das sie dem Kind, der Tier- und Pflanzenwelt bezeugen, dennoch nehmen sie weder das Lied der Erde, das ihre Stimme übertönen wird, noch die neuen Harmonien eines Lebens, das sich zurechtrückt, wahr.

Die höchste Gefahr, der sich das unaufhaltsame Wachsen des Lebenden aussetzt, besteht weniger im Ansturm der lukrativen Rekuperation als im Angst- und Todesreflex, dessen Verschwörung seit Jahrhunderten den Genuß mit Verboten belastet. Deswegen kommt es noch vor, daß gegen ein immer allgemeiner verbreitetes ökologisches Gefühl plötzlich irgendeine wütende Entschlossenheit aufsteht, die Natur zu verwüsten, oder daß als Kontrapunkt zu einer wachsenden, überall betonten Zuneigung eine blinde Gewalt inmitten der Familie und der Gesellschaft auf das Kind einbricht.

Ganz gewiß wird man nicht mit der Neigung zum Mord fertig, indem der Angst vor dem Leben, die zum Töten verleitet, die Angst vor der Strafe hinzugefügt wird. Eine Gesellschaft hat nur die Verbrechen, in die sie Geld steckt. Für die jetzige ist es zu spät, sich durch den Kampf für den Schutz der Kinder reformieren zu wollen, während aus der Versöhnung von Natur und Kindheit menschliche Beziehungen im Entstehen sind, die das Maß einer radikal anderen Gesellschaft vorgehen.


Nicht die verletzte, sondern die blühende Kindheit in sich selbst wiederfinden

Die Psychoanalyse ist ein Hilfswerk für die Gefühlsbeschädigten; sie erleichtert ihre Wiedereingliederung in eine Gesellschaft, die sie beschädigt. Bezahlt wird der Psychoanalytiker, um zu erklären, wie das Trauma stufenweise die Schuld bereinigt, die jeder bei seiner Geburt eingeht und die jedem ausdrücklich befiehlt, sich selbst zu töten.

Nun lädt die Entwertung jeglicher Zahlungsweise zu natürlicher Kostenlosigkeit ein. Allein das Licht der gegenwärtigen Genüsse kann die gespenstischen Zwangsvorstellungen der Vergangenheit vertreiben. Steigen nicht gerade die glücklichsten Augenblicke der Kindheit an die Oberfläche, wenn die unermeßliche Fülle dem Körper sozusagen ein ewiges Leben einhaucht? Ein umso stärkeres Gefühl, als es meist aus dem entspringt, was ein auf den Nutzen ausgerichteter Geist für geringfügig zu halten beste Gründe hat: eine Geste der Zärtlichkeit, eine Landschaft, ein Wort, ein Blick, ein Tonfall, ein Geruch, eine Begegnung, ein Geschmack.

Es geht nicht mehr darum, die Traumata auf sich zu nehmen, man sollte nur Zustände der Gnade anstreben. Die Leidenschaften, von der Zuneigung geleitet, würden sich nicht länger in diesem langen Todesschrei zerfleischen, der ihre bisherige Geschichte war. So viele vereinzelte Träume und Erinnerungen deuten auf so viele Leben hin, die auf der Suche nach sich selbst gewesen sind, daß mir scheint, es gebe nichts Wünschenswerteres auf der Welt als die dringende Bitte zu erfüllen, die sie jeden Augenblick zum Ausdruck bringen.

Mögen die Zeiten kommen, in denen das Kind sich über genug Liebe freuen kann, um zu lernen, das zu werden, was es beim Heranwachsen zu sein nie die Chance hatte: ein Mensch. Der freie Gebrauch der Kreativität wird ihm eine zunehmende Autonomie sichern und es von der elterlichen und staatlichen Vormundschaft befreien. Endlich wird ihm das Privileg zuteil werden, am Ufer der Liebe anzulegen - ohne die lächerlichen Umwege und Verzerrungen, denen die Erwachsenen sich so heftig widmen, daß sogar die vom Glück begünstigten Inseln zu Stätten der Angst, der Krankheit und des Wahnsinns werden.

Nur die in ihrer natürlichen Kostenlosigkeit wiederhergestellte Liebe gibt den Begierden ihre ursprüngliche Einfachheit und eine Animalität zurück, zu deren Verfeinerung gerade das Lernen berufen ist. Es macht das Kind mit seinem Schicksal vertraut: einzigartig auf der Welt zu sein und solidarisch mit einem überall gegenwärtigen Leben.

Die Humanisierung der Begierden bildet die Grundlage einer neuen Erziehung, deren Prinzipien jedoch immer diejenigen der einfachsten Lüste gewesen sind. So zum Beispiel die Kunst, die nach und nach aus der rohen, unklaren Empfindung eines ersten, in jungen Jahren getrunkenen Schlucks Wein eine Herausbildung des Geschmacks und des Gaumens und eine Suche nach feineren Gewächsen macht.


Die aus dem Lebenden herausgerissene Zeit

Die Ausbeutung der Natur hat sogar die Zeit denaturiert, die den lebendigen Organismen zugeteilt ist. Die Verseuchung durch die Ware hat die Existenz der Algen, der Bäume und der Seehunde ihrem Gesetz der allgemeinen Artenvernichtung unterworfen. Fügen Sie noch die Ozonschicht, den Boden und die Atmosphäre hinzu, so können Sie ziemlich genau die Geschwindigkeit messen, mit der die Ökonomie sich verwirklicht und das Leben auslöscht.

Was ist der weltweite Tod, dessen Vollzug wir jetzt wie einer Ragnarök, Apokalypse oder dem Jüngsten Gericht der religiösen Legenden zusehen, anderes als jene Zeit, die der Ewigkeit des Lebens von einer Geschichte entrissen wurde, in der das Sein der Ökonomie das Nichts des menschlichen Seins programmiert? Die Zeit der Expansion des Lebens ist in eine Zeit der Expansion der Ware umgewandelt worden; damit wurden die biologischen Rhythmen, der Wechsel von Aufregung und Ruhe, die Reihenfolge von Systole und Diastole einer durch Verlust und Gewinn, Fortschritt und Rückgang, Glück und Unglück geprägten Dauer unterworfen, einer Zeit, die Geld ist und sich dem Marktwert gemäß entwickelt und abwertet.

Es gehört zu dieser Zeit, in welche die Produzenten wohl oder übel mit hineingerissen werden, daß sie sich im Takt der Geschäfte verbraucht und diejenigen im selben Maß verschleißt, die durch die Geschäfte weit von sich selbst weggetrieben werden.


Die Gegenwart kennt kein Alter.

Das Ende des Alters als Macht und Vorstellung

Die Anglo-Amerikaner, die es oft am besten verstanden haben, mit den Neurosen eines merkantilen Daseins umzugehen, benutzen das Wort stress, um den Zustand der zum guten Gang der Geschäfte notwendigen Aufregung zu bezeichnen.

Heute bezahlt die Hektik aber die Nerven- und Geisteszerrüttung so schlecht, daß etliche Leute, der ständigen Ermüdung einer mechanisierten Zeit überdrüssig, den unerwarteten Genuß des gegenwärtigen Augenblicks wie ein Privileg wiederentdecken. Ein Stück ihrer selbst wird ihnen zurückgegeben, sie zieren sich noch, es anzunehmen, wollen dann aber mehr davon.

Beim Zusammenbruch der Macht hat das Alter die Tressen des Prestiges eingebüßt. Der Generationskonflikt, der die freche Borniertheit der Jüngeren so lange der überheblichen Dummheit der Älteren gegenüberstellte, ist dabei, aus Mangel an glaubwürdigen Kämpfern wie durch einen Taschenspielertrick zu verschwinden. Beim heutigen Sturz der Werte wartet der Archaismus nicht mehr auf die späten Jahre. Die Märkte, die in ihrem Niedergang alle Register ziehen, treiben wahllos sechzehn- oder achtzigjährige Greise in die Altersschwäche. Das gleiche nichtige Leben stellt zwischen dem jungen Unternehmer und dem alten, mit allen Wassern gewaschenen und von Börsenerfolgen gezeichneten Spekulanten ein Gleichgewicht her. Die Beschleunigung des mechanisierten Körpers tut das sich auf das ganze Leben erstreckende Greisenalter als unwichtig ab.

Dagegen ist die Bedeutung, die von Kindern und älteren Leuten der Liebe beigemessen wird, ein neues Phänomen - so als ob das Leben dort wieder aufblühen würde, wo die Autorität der Arbeit nicht zu ihrem vollen Recht kommt: bei den ersteren, weil sie mit Bedauern eine Arbeit anfangen, bei den letzteren, weil sie mit Erleichterung aufhören. Ein glückliches Zusammenkommen von Leuten, die - noch nicht alt genug oder schon zu alt, um zu produzieren und zu konsumieren - in der Sinnlichkeit des gegenwärtigen Lebens Grund genug entdecken, um niemals jung oder alt zu sein. Zwischen diesen beiden bleiben nur die Menschen der Ökonomie, für die das Alter weiter am Grad ihrer Müdigkeit gemessen wird, wenigstens solange Liebe und Lust sie nicht Kindern ähnlich machen.


Die neue Zeit ist die Zeit der Kinder

Jahrhundertelang hat sich die Mentalität der Kinder nicht spürbar geändert. Sie ist das Spiegelbild eines Machtkampfes geblieben: Es ging darum, groß zu werden, um den Schikanen zu entgehen und den Schwächeren welche zu machen. Das wurde kindliche Grausamkeit genannt.

Innerhalb einiger Jahre hat diese Mentalität sich plötzlich zu ändern begonnen. Zunächst entstand eine gewisse Verwirrung, eine Weigerung, alt zu werden und sich in die absurde und hassenswerte Welt der Erwachsenen einzufügen. Da diese Welt sich ohne Widerrede als die einzig mögliche aufspielte, brachte ein gewisser Hang zum Tod die Enttäuschung über diesen ausweglosen Schritt zum Ausdruck. Dann behauptete sich aber der Entschluß, anders aufzuwachsen und zu einem Menschen zu werden, der die Früchte einer glücklichen Kindheit und nicht die unfruchtbaren Äste ihrer Negation trägt. Nachdem das Kind aus einer Geschichte ausgeschlossen wurde, die in Verachtung der Natur und des Menschlichen verlaufen ist, tritt es nur so lange in sie ein, um ihre letzte Seite umzublättern und die Tür hinter einer archaischen Zivilisation zuzuschlagen, die keinen mehr interessiert.

Diese Gegenwart genügte, um neue Banalitäten in die Mühle der öffentlichen Meinung zu schaffen, die neues Mehl ergeben sollen. Das Kind ist nicht geboren worden, um zu produzieren, sondern um das Leben, von dem es geschaffen wurde, neu zu schaffen. Es kommt in der Kostenlosigkeit der Liebe zur Welt und die Kostenlosigkeit der Liebe ist die Grundlage seiner Lehrzeit, da es nicht mehr stimmt, daß die Hand das Streicheln und Spielen verlernen muß, um ein Werkzeug geschickt zu benutzen. Es stimmt auch nicht mehr, daß leben lernen heißt, leiden, sich verstümmeln, sich aufopfern und abrackern lernen; noch daß die Zuneigung sich durch ständiges Feilschen in der Familie, der Schule und der Gesellschaft verkaufen muß, um dann verwundert zuzusehen, wie aus den gebildeten Kleinen recht gequälte Köpfe geworden sind.

Es ist beinahe nützlich, diejenigen, die heute mit der Untersuchung dieser paradoxen Neuigkeit anfangen, daran zu erinnern: Das Kind stammt nicht von einem anderen Planeten, sondern es trägt einen radikal anderen Planeten als Keimzustand in sich.

Die Untersuchung des Verhaltens von Embryos und Kleinkindern kann nur in einem umfassenderen Projekt ihre Bedeutung erlangen, im Willen, die Eigentümlichkeit des Kindes wiederherzustellen und das weitere Wüten der Denaturierung zu verhindern, die es mitsamt der Erde zerstört.

Im Kind wie in dem, was von Tier- und Pflanzenwelt noch vorhanden ist, schlägt das Herz eines ungeteilten Lebens. Daß eine solche Musik uns bezaubern kann, ist im Takt des Todes, der das Fortschreiten des Planeten zum endgültigen Stadium seiner Ökonomie begleitet, für das Heil eines jeden von Bedeutung.


Die Entstehung einer alchimistischen Beziehung

Die Anfangserfahrung des Lebens wird in der Entdeckung der ersten Kindheit sichtbar und wir wissen heute, daß die ganze Entwicklung wieder aufgenommen werden muß, deren brutale Unterbrechung der Hoffnung auf das Menschliche ein jähes Ende bereitet hat.

Sie beginnt im Fötus und in der großen Retorte des mütterlichen Körpers. Der Körper ist ihre alchimistische Feuerstelle und ihre materia prima. Dort wird das Kind in demselben Maße erschaffen, wie es sich selbst erschafft, als Frucht eines Elixiers, in dem die Frau ihren Gefühls- und Nahrungsvorrat anbietet und der Embryo sich herausbildet, indem er die Mittel zu seinem Leben aus dem Überfluß seines Lebensraumes schöpfen lernt.

Eine hellsichtige Betrachtung hat vor kurzem dargelegt, daß es möglich ist, mit dem Kind im Mutterschoß in Verbindung zu treten, es anzusprechen in einer Sprache der Wärme und der Gefühle und ganz offensichtlich nicht der der geschäftlichen Transaktionen.

Durch einen Zauber, der wie gerufen kommt, wird zwischen den Menschen in ihrer radikalen Neuheit zaghaft eine Beziehung alchimistischer Art ausgearbeitet, bei der die Verwandlung der primären Natur die gleichzeitige Verwandlung der handelnden Person einschließt. Der Erwachsene, der durch die Welt des Neugeborenen hindurch das Kind und die Welt, die es in sich trägt, wahrzunehmen versteht, erfaßt auch seinen Nächsten mit demselben Blick. Er richtet sich nach den Menschen, in denen ein Lebensfunke glüht, und belastet sich nicht mehr mit den Gefährten des Todes.

So wie die Lebenserfahrung nach der Geburt Gestalt annimmt, entfernt sie sich von der alchimistischen Suche gemäß dem Abstand, der ihr von der gesellschaftlichen Erziehung aufgezwungen wird. Im Verhalten des Kleinkindes kommt die Hartnäckigkeit der Pflanze wieder zum Vorschein, mit der sie aus ihrer Umgebung das Leben herauszieht, das feindliche Gelände meidet und umgeht, um ihre Wurzeln in einen belebenden Boden zu treiben. Gleichzeitig zeigt sich das Lernen des Tieres, das eine Umwelt entdeckt, in der Hitze und Kälte, Zärtlichkeit und Aggression, Fürsorge und Zurückweisung herrschen. Aber schon gestaltet die menschlich-unmenschliche Anwesenheit eine Landschaft, an der die Natur nur noch künstlich teilhat, den fertigen Rahmen eines Zimmers, eines Hauses, eines Gartens, einer Familie: Man muß dort hinein, zu welchem Schicksal auch immer. Auch diese Landschaft wird von den Veränderungen des Gefühlsklimas heimgesucht, von den Stürmen der Wut und der Ungeduld, dem Rauhreif der Unachtsamkeit, den Spannungen des Schuldgefühls, dem Frühling der Zärtlichkeit, der Glut der Liebe, dem Wirbelsturm der Neurose, dem Glanz der Fülle, dem Zittern des Begehrens und dem beruhigenden Licht der Lust.

Zeichen, die das Kind nach und nach entschlüsselt, deuten auf die Bedingungen, unter denen es sich entwickelt. Bald ermutigt eine sanfte Aufmerksamkeit dazu, voranzugehen, bald lehrt die Einsamkeit, die Initiative zu ergreifen, der Gefahr des Unbekannten allein zu trotzen und die Autonomie zu vervollkommnen. Auf dieser Suche, bei der man vergessen wollte, daß sie eine Suche nach dem Glück ist, kommt es vor, daß das Kind weint, mit den Füßen stampft, verzweifelt, indem es sich der Hemmnisse und der Schwierigkeiten bewußt wird. Gerade an diesem Punkt hat die Sache immer eine schlimme Wendung genommen, wenn die Erwachsenen, durch die sie beherrschende Ordnung gequält, auf ihr Herz verzichten und erkennen lassen, daß der Weg des Genusses nicht derjenige des Wissens ist.

Sollte sich eine Wandlung abzeichnen, dann in der neuen Kommunikation, die sich zwischen den Menschen herstellt, die sich ihrer Unfertigkeit bewußt sind, und den Kindern, die für ihr eigenes Lebenspotential empfänglich sind. In dem Gefühl, allein die Suche nach der Lust nähre die Erschaffung seiner selbst und der Welt und treibe sie voran, liegt das Opus Magnum, die orphische Dichtung, die hinter das Geheimnis der menschlichen Wesen und der Dinge gekommen ist und die durch das Lebende, das diese sich bewahrt haben, die furchterregendsten Furien des verdrängten Lebens besänftigt.

Das Schicksal hat keinen anderen Schußfaden als denjenigen, der den jeden Tag aufs neue begonnenen Wandteppich der Lüste webt, und diese Lüste werden im Leben genossen und der Humanisierung der natürlichen Umwelt angeboten. Nur diejenigen beginnen zu leben - so wie das Kind es noch nicht verlernt hat -, die sich Zeit nehmen, auf Wesen und Dinge den verwunderten Blick der Lust zu richten, die aus ihnen geschöpft und vervollkommnet werden kann - nicht als Betrachtung, sondern als Projekt einer unmittelbaren und endlosen Schöpfung.

Die rohe Natur wird zur menschlichen Natur auf dem Umweg über eine sinnliche Intelligenz - eine vom Leben nicht getrennte Intelligenz, der es vergönnt ist, allmählich den Platz einzunehmen, der durch das Verschwinden der patriarchalischen Familie und der Erziehung ökonomischer Prägung frei wurde.

Das in seiner Hierarchie von Funktionen und Rollen erstarrte Alter folgt der wilden Flucht der Zeit, die sich an Geld und Macht messen läßt. Die einzige wertvolle Zeit ist die des gegenwärtigen Glücks, und sie ist die Zeit der Ewigkeit. Wie man sehr wohl gesehen hat, war die Zukunft nur eine Vergangenheit, die für die schlechte Parodie eines defizitär gewordenen Verkaufs hastig renoviert wurde. Was hier und jetzt verankert ist, muß keinen Wechsel auf den nächsten Tag ausstellen.

Die absolute Waffe, über die das Kind verfügt, ist die Zuneigung, aus der es wächst und die es um sich herum wachsen läßt. Um sich selbst zu lieben, gibt es nichts besseres als das Gefühl, geliebt zu werden; umgekehrt schmieden Achtung und Verachtung die Kette der Selbstgefälligkeit und des Selbsthasses. Genau in diesem Sinne empfiehlt es sich, den alten Sinnspruch zu verstehen, dem gemäß "die Liebe kein Alter kennt".


Das einzige Modell menschlicher Erfüllung ist die Liebe.

DER VORRANG DER LIEBE

Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte ist die Natur zu so großer Denaturierung gebracht worden und zu keinem Zeitpunkt ist ein so entschiedener Wille entstanden, sie neu zu schaffen, indem sie von dem befreit wird, was sie knechtet.

Durch den Eroberungszug der Ware angespornt, haben die Wissenschaften eine Seite der Erde erhellt und die andere in die Nacht der Unwissenheit getaucht. So viele Wahrheiten sind mit den Gezeiten hin und her gewälzt worden, daß die abfahrtbereiten Schiffe in den verstopften Häfen vor sich hin rosten. Keine Fahrt ging je über den ewigen Kulissenwechsel verdreckter Buchten hinaus.

Heute ist die Erkenntnis nichts mehr für uns, wenn wir nicht durch den Selbstgenuß Schlüssel und Zugang zu ihr finden. Kein Wissen kann ohne das Bewußtsein der Liebe gelten und keine Liebe kann ohne die Liebe zum Leben gelernt werden.


Die Liebe ist mit der Ökonomie unvereinbar

So wie das gemeinhin untersuchte Leben nicht das Leben ist, sondern dessen ökonomisierte Form - grundsätzlich eine Überleben genannte Dauer -, so kann die Liebe nicht länger mit den Mechanismen verwechselt werden, die sie so weit konditioniert haben, bis sie für ihre Substanz gehalten wurden.

Der Zusammenbruch des Patriarchats und dann des Feminismus, der kurz die Machtlücke gefüllt hatte, hat die Gefühle aus einer Ansammlung von Funktionen herausgelöst, die ihren Sinn und Reiz verfälschten: Austausch der Rechte und Pflichten, Berechnung von Verlust und Gewinn, Kampf zwischen dem Stärkeren und dem Schwächeren, von Krieg und Frieden der Ehepartner beherrschte Konkurrenz, nach den Kriterien des finanziellen Erfolgs geführter Familienbetrieb. Mit immer größerer Genauigkeit ist eine Trennungslinie zwischen den Gedenkstätten des Herzens und jenen Gebieten gezogen worden, die unter der Kontrolle der merkantilen Gesinnung stehen.

Was die Liebenden als Geschält betreiben, treibt sie von der Liebe fort. Die eifersüchtige Aneignung des Partners, die wie eine eroberte Stadt behandelte Frau, die eheliche Verkettung von Frustration und Aggressivität, die hygienische Befriedigung des Geschlechtlichen, der Verruf der Zärtlichkeit, die als Anfall von Schwäche, Infantilismus, Krankheit oder Wahnsinn betrachtet wird - dies sind archaische Züge, und die Partei des Lebens lehnt es ab, die Leidenschaft der Liebe mit ihnen zu identifizieren. Diese offenkundige Einsicht, die paradoxerweise nicht selbstverständlich war, ist eine erfreuliche Banalität: Die Liebe wird hellsichtig, seit sie sich nicht mehr blind machen läßt.

Das wird durch das Auseinanderfallen der herkömmlichen Familie bestätigt, der es nicht mehr gelingt, die den Kindern von Natur aus entgegengebrachte Zuneigung mit dem niederträchtigen Handeln zu verquicken, bei dem die Liebe gegen die Gefügigkeit getauscht wird, der Schutz sich zur Macht aufwirft und die Geburt eines Menschen der Produktion einen weiteren zukünftigen Arbeiter zuführt.


Die Ideologie der Zärtlichkeit

Lob und Verhöhnung der Ware: während ein neues Bewußtsein den Betrug der Liebe ohne Liebe denunziert, eröffnet der Markt der materiellen und geistigen Werte seine Läden unter dem Firmenschild der Zärtlichkeit und benutzt die Annehmlichkeiten der Seele und der Wollust zur Umsatzsteigerung, mit dem alleinigen Zweck, die Segnungen des Sozialismus und des Toilettenpapiers zu preisen.

Der Sündenbock, Prometheus und Christus hatten dem der Arbeit geweihten und aus Rentabilitätsgründen seiner Körperlichkeit beraubten Körper die ersten Propagandabilder geliefert. Die letzte Version bietet heute die Werbung für die Liebe an. Die Kastrierung des Begehrens hat nur die Form geändert.

Die allerletzte Abstraktion des Lebenden kommt den Leidenschaften, die sie parodiert und wieder in Besitz nimmt, jedoch allzu nahe, und sie wird dem Willen zur Authentizität nicht lange Widerstand leisten können, der in jedem wie eine zu vollendende Kindheit wiedererwacht auch wenn die Angst vor Aids eine Zeitlang die spektakulären Tugenden einer vom Körper losgelösten Sexualität aufrechterhält und die althergebrachte Furcht vor der Liebe unter dem Blick eines HIV-positiven Christus mit erigiertem Glied verewigt.


Die Erbsünde

Die Furcht vor der Liebe ist eine Furcht vor dem Leben. Sie geht aus dem Verbot hervor, das die Warenzivilisation gegen die Kostenlosigkeit der Genüsse erlassen hat. Die Liebe soll sich nicht hingeben, es sei denn, sie opfert sich und bewirkt ihre Verdammung im Körper und mit dem Körper, um im Geist und durch den Geist erlöst zu werden. Der lächerliche Konflikt zwischen Reingeistigem und Fleischlichem hat die Liebe so stark mit Ängsten und Frustrationen vollgestopft, daß sie kaum damit beginnt, nicht länger zwischen Keuschheit und Vergewaltigung zu pendeln, die bisher fast immer ihre erbärmliche Bewegung begrenzt haben.

Die Liebe war das Böse, das in der Erbsünde, in der Frau, im mörderischen Selbsthaß, in der Hexerei der natürlichen Freiheit verkörpert war. Durch die Aids-Pest wird die letzte Verurteilung der Liebe veranschaulicht, und als einzige Möglichkeit, diese Schmach und ihre Wirkungen auszulöschen, erahne ich die Macht einer Liebe, die endgültig die Schar ihrer Richter und ihrer Schuldgefühle zurückweist.


Es gibt keine Nächstenliebe ohne Eigenliebe.

Die natürliche Kostenlosigkeit der Liebe

Die Liebe ist die einfachste unter den menschlichen Beziehungen; deswegen wurde alles aufgeboten, um sie kompliziert zu machen und zu denaturieren. In dem Maße, wie die Lebenskraft sich heute nur widerwillig in Arbeitskraft verwandeln läßt, setzt eine neue Einfachheit die Liebe wieder in ihr absolutes Hoheitsrecht ein. Der technische Fortschritt hat so viele Erfindungen gebracht, die das Glück des einzelnen nie vorangetrieben haben, daß jeder von nun an dazu neigt, seine Fähigkeiten nicht mehr für die Mechanik der Geschäfte, sondern für die Leidenschaft der Liebe einzusetzen, bei der zumindest der Genuß erlernt und auf der Stelle erlebt wird.

Nichts ist wichtiger als das Entstehen der Liebe, es sei denn deren tägliches Wiedererstehen. Man kann noch so genau wissen, daß alle Verwirrungen der Liebe vom Unglück der Kindheit herrühren, doch woher soll die Genesung kommen, wenn nicht von der Gelegenheit, die dem Erwachsenen geboten wird - und die er meistens ablehnt -, bei jeder Liebesbegegnung der Zuneigung den absoluten Vorrang vor allen käuflichen Beschäftigungen zu sichern?

Das wahre Leben fängt in dem Augenblick an, da dem Kind die Liebe bedingungslos zuteil wird. Hier behauptet sich die Unvergänglichkeit des Lebenden. Es gibt andererseits zwischen Kindern und Eltern oder zwischen Liebenden Stunden und Tage, in denen die Zuneigung weder Zeit noch Lust hat, sich zu offenbaren, da sie von dem besessen ist, was ihr gewöhnlich so zuwider ist; dadurch ändert sich aber keineswegs das Gefühl, daß sie unauflöslich gegenwärtig bleibt und einer unwandelbaren Wirklichkeit des Herzens angehört, so wie der Saft im ewigen Rhythmus der Jahreszeiten den Baum belebt.

"Du darfst alles, weil ich dich liebe und du mir nichts schuldest": So lautet das Leitmotiv, ohne das ich mir keinen spezifisch menschlichen Lernprozeß vorstelle - eine Liebe, die dem Kind so sorgsam hilft, sich selbst zu lieben, daß es alles - von den ersten Gesten bis zu den größten Lebensfreuden - nur mit den besten Glückschancen unternehmen wird.

Die Epoche der schöpferischen Menschen wird in der Liebe beginnen, die sich gibt, statt getauscht zu werden.


Die Liebe schließt das Opfer aus

Die wahre Liebe war immer nur im Zustand des Entstehens vorhanden - so wie auch das menschliche Wesen, seine Zivilisation, die Authentizität in ihrem ursprünglichen Elan oder die Freigebigkeit in ihrer natürlichen Kostenlosigkeit. Wir kennen nur Anfänge, und das Unglück will es, daß auf all diese Anfänge, die als Kinderei und Schwäche bezeichnet werden, das Ende folgt, dessen gut eingeschliffene Mechanismen den Eindruck von Kraft und Sicherheit entstehen lassen.

Der Durst nach dem Ursprung ist mit der Zeit entstanden. Da wir vom Tod nichts mehr zu erfahren und zu erwarten haben, bleibt uns nur die Wahl, alles am Ausgangspunkt neu zu beginnen, wo nichts von dem in Erfüllung gegangen ist, was im Entstehen begriffen war.

Die Agonie der Religionen, deren letzten Zuckungen der Wut und Heuchelei wir heute beiwohnen, enthüllt das, was sie von jeher gewesen sind: ein Verbrechen gegen das Leben. Die Kritik, die sie denunziert, geschieht aber nicht mehr gemäß dem Geist, der das Wesen der Religionen ist. Sicherer als all die gotteslästerlichen Schmähungen, die noch wie Grabreden für eine Leiche klingen, fegt sie das Bewußtsein des Lebenden in die ökumenische Gosse.

Jeder Mensch wächst mit der Zuneigung, die er zu geben vermag. Das ist das Geheimnis oder besser das Erlebnis der Fülle, das jedem so sehr am Herzen liegt, daß die Kirchenleute es schleunigst mit ihren unflätigen Opfermahnungen überschüttet haben. Wer sich opfert, um Liebe zu geben, gibt nur das Beispiel eines Opfers. Sich selbst töten, um anderen zu helfen, verhilft den anderen nur dazu, ihrerseits zu sterben.

Welch ein Hohn zu behaupten, man könne dem Nächsten eine Freude machen, ohne sich selbst eine zu gönnen! Wie könnte ich Angenehmes bieten, wenn ich selbst darauf verzichte? Die Lust ist eine natürliche Kostenlosigkeit, eine Gabe, die man empfängt und aus der man keinerlei Nutzen zieht.

Das Opfer ist unvereinbar mit dem Genuß: Die Verstümmelung, die es bewirkt, läßt die Sprache des Körpers zum Wortschwall des Geistes werden, die libidinöse Energie sich für einen Lohn verkaufen und den sich selbst verleugnenden Willen zum Leben zum Willen zur Macht werden.

Die Zeit ist vorbei, da die Mutter dem Kind gegenüber die Opferrolle eines Pelikans übernahm und ihm damit für das ganze Leben die Schlinge des Schuldgefühls um den Hals legte. Von nun an lernt die Liebe, sich selbst zu lieben, indem sie alles liebt, was lebt. Keiner spricht hier davon, jeden und alles zu lieben. Ich verweigere meine Zuneigung den Trägern des Todes und denjenigen, die voller Qual ihr Kreuz für das Heil einer Welt schleppen, die sie umbringt. Meine Absicht, mich dem zu widmen, was der Liebe wert ist, beschäftigt mich zu sehr, als daß ich gegen Leute wettern würde, die sich selbst zerstören, und ich sehe keine bessere Garantie gegen ihren selbstmörderischen Bekehrungseifer, als jeden Augenblick nach dem Faden eines Lebens zu greifen, das mit allem zu verweben ist, was sich dem Herzen darbietet.

Alles sollte von der Liebe gelernt werden - ich spreche von einer Liebe, die alle ökonomischen Mechanismen, die sie denaturieren, abgelegt hat. Es geht hier nicht darum, Lehren zu erteilen, weder über die Praxis der Liebesbeziehungen noch über die Kunst, sie von allem, was sie verneint, zu reinigen. Der einzig gültige Lernprozeß kommt vom einzelnen selbst, von einem aus der individuellen Erfahrung entstandenen Bewußtwerden. Und es steht jedem zu, die Allmacht der Liebe dort zu erfassen, wo sie ungeteilt zutage tritt; sie in der bebenden Schönheit der Lust als das zu erkennen, was sie ausschließlich ist: der Schwerpunkt der Anziehungskraft eines durch die Arbeit täglich aus dem Gleichgewicht gebrachten Körpers. Die Liebe ist das Wesen selbst des Menschlichen.


Die Liebe ist die Verfeinerung des Begehrens

Die Liebe ist nicht die Transzendenz des sexuellen Bedürfnisses, jene Boulevardposse mit dem Engel und dem Tier. Sie ist die Einheit des Körpers, der das Chaos seiner Begierden ordnet, deren ursprüngliche Roheit verfeinert und sich mit dem einzigen Entwicklungsprinzip des Menschengeschlechts identifiziert: daß jeglicher Genuß nach Vervollkommnung strebt.

Hat die Liebe einmal ihre sinnliche Majestät wiedergewonnen, jenen Blutstrom, in dem die geschärften Sinne jedem besonderen Wesen seinen spezifischen Sinn geben, schafft sie den alten, abscheulichen Gehorsam gegenüber Himmel, Geist, intellektueller Funktion und Trennung ab - der Trennung zwischen den Menschen und den Dingen, zwischen den Menschen untereinander und in jedem Menschen selbst.

An die Stelle der Transzendenz wird dann die Transmutation treten.


Die Liebe wird sich der Symbiose bewußt, die zwischen der Natur und den Menschen des Begehrens herzustellen ist.

Die Allgegenwart der Liebe

Die Liebe ist die Verwandlung des Sexualtriebs in eine Pansexualität, die dem Ausdruck und der Verständigung des Menschlichen am authentischsten entspricht.

Indem der Sexbesessene überall die Symbole von Phallus und Vagina wahrnimmt, die seinen aufgeregten Sinnen durch die Frustration eingeprägt werden, empfängt er eigentlich die Sprache der Natur, nimmt sie aber in negativer Form auf, im Gestammel des Zwangs und in der neurotischen Reaktion eines durch die Unbefriedigtheit des Körpers verwirrten Geistes. Zwischen ihm und glücklichen Liebenden besteht nur der Unterschied zwischen körperlicher Erfüllung und deren Fehlen. Die Umwelt wird in entgegengesetzter Richtung gelesen: Hier macht die Liebe eine Landschaft sinnlich, in der die Kraft der Analogie im rauschenden Laub, im duftenden Heu, im Verlauf einer Mauer, in der Linie einer Straße, in der Geste eines Vorbeigehenden alle Anmut des geliebten Menschen entdeckt. Dort reizt der Wind in den Bäumen, eine plötzliche Hitze oder der Galopp eines Pferdes zum brutalen Verhalten eines Haudegens, da der Geist, der diese Dinge spürt, ein Geist der Ausbeutung ist, der nichts anderes als strenge Unterdrückung und aggressive Abreaktion der Unfähigkeit zum Genuß kennt. Es gibt keine Moral- oder Strafpredigt, keine politische Rede, weder Haltung noch Tick, die sich nicht nach einer solchen Deutungsschablone entziffern ließen; es ist die einzige elementare Lektüre, der keiner entgehen kann, wie Groddeck gezeigt hat.

Die Sprache der verliebten Liebenden hat den Abdruck einer ursprünglichen Sprache bewahrt. Dieses Flüstern und Murmeln, diese modulierten Schreie, diese gestammelten Silben, die von versierten Menschen als verdummender Infantilismus verspottet werden - sind sie nicht, wie bei den Tieren und den Kindern, der Atem des Genusses und des Spannungszustandes, der zum Genuß führt? Die beschwingte Luft der Liebe, die das Lebende zu sich selbst trägt, ist eine geheimnisvolle Sprache. Sie ist in der Umarmung enthalten, die die Mutter mit dem Kind vereint, das sie im Schoß nährt oder in den Armen wiegt, und ich würde nicht behaupten, daß sie nicht in der Vertraulichkeit des Dialogs mit sich selbst fortlebt. Wendet sich derjenige, der sich selbst lieben lernt und heimlich sein Begehren schärft, um es besser zu verwirklichen, nicht an sich selbst wie an das Kind, das er gewesen ist und dem er verspricht, die unzähligen Wünsche und Bitten zu erfüllen, die er in jungen Jahren inbrünstig an Feen gerichtet hat? Die Beschwörungsformeln der Zauberbücher und das Psalmodieren der Hexen sind nur der trübe Schaum jener tieferen und wirksameren Magie, die in der Kraft des Begehrens und in der Brücke eingeschlossen ist, die von der libidinösen Energie des ganzen Körpers zur Wirklichkeit der zu verändernden Welt geschlagen wird.

Man hat allen Grund zu glauben, daß die sinnliche Sprache dabei ist, das an Kraft zu gewinnen, was die ökonomisierte Sprache des gesellschaftlichen Vertrages an Glaubwürdigkeit verliert. Mit anderen Worten, daß die Zeichen der Zuneigung, durch die das Lebende sich von Person zu Person und von Individuum zu Landschaft erkennt, nach und nach die Oberhand über den Wortlaut der Reden und sehr viel einfacher über das, was gesagt wird, gewinnen werden.


Die zu gründende Souveränität

Der Bankrott eines Systems der Wirklichkeit, determiniert durch die sie steuernden ökonomischen Mechanismen, hat eine latente Wirklichkeit, die seit Jahrhunderten durch die Geschichte der Ware verdrängt wurde, aus ihrer Betäubung geweckt. In ihr gelangt die Liebe zu einer Souveränität, die sie dort ausüben soll, wo einst Profit und Macht herrschten. Sie ebnet den Weg zur allgemeinen Verfeinerung der Begierden, die das Hinauswachsen über die elementaren Bedürfnisse kennzeichnet und den einzig möglichen Fortschritt der Menschheit auf die Suche nach Genüssen gründet.

Allmählich öffnet sich die geschlossene Welt der Innerlichkeit einer frühlingshaften Fruchtbarkeit, die Furcht und Angstgefühle verjagt, die Neurosen der Vergangenheit auflöst, die Lust ins helle Licht des Tages stellt und die Saat ins brachliegende Land bringt, aus dem die Ware sich zurückzieht. Die Liebe widerruft die Gewalt der Frustration und denkt sich eine Gewalt voller Zärtlichkeit aus. Die Hand, die streichelt, läßt die Hand der Macht verschwinden.

Um die Überfülle zu verbreiten, brauchen wir nur noch ohne Vorbehalt, ohne Berechnung und ohne Vorsicht zu lieben - bis sich aus unzähligen Herzen das Lied der Erde erhebt.


Die Ausbeutung der Natur hat die Natur selbst und damit auch den Menschen denaturiert. Die Sehnsucht nach einer ursprünglichen Natur und deren unmöglicher Rückkehr ist der morbide Trost einer an der Ökonomie erkrankten Gesellschaft. Es geht nicht darum, dem Menschen und der Erde ihre Natur zurückzugeben, sondern sie zu humanisieren, indem man den in ihnen verborgenen lebendigen Energien den Vorrang gibt.

DIE HUMANISIERUNG DER NATUR

Die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und der menschlichen Natur ziehen zwischen den Menschen, die da arbeiten und sterben, eine Grenzlinie, die den einzigen zukünftigen Zusammenstoß kennzeichnet. Während die Partei des Todes immer noch aus der Angst ihre Macht schöpft, inmitten der Ruinen des Spektakels und der Finanzen zu herrschen, ertönt einstimmig ein Ruf aus den Straßen, den Wäldern und den Herzen: "Vor allen Dingen das Leben!"

Schon bevor dieses Murren ins öffentliche Bewußtsein dringt, wird sein Echo sehr wohl in den Reihen des Feindes wahrgenommen, da es kein umweltverschmutzendes Geschäft oder Unternehmen gibt, das nicht auf den Gedanken käme, eine Kampagne mit dem Thema zu machen, das Leben zu retten. Sind nicht die Netze der Ware vollgestopft mit Naturprodukten, natürlichen Arzneimitteln und ökologischen Verpackungen?

Nun dürfen die merkantile Vereinnahmung, das mystische Gerümpel der vitalistischen Theorien und der Bodensatz aus den Mülleimern der Religiosität nicht das authentisch Revolutionäre verschleiern, das in dem Willen vorhanden ist, das tägliche Leben mit der lebenden Materie, mit dem allgegenwärtigen Körper zu versöhnen. Es hat doch jedes einzelne Wesen und Phänomen untrennbar und sozusagen gleichwesentlich an diesem Körper teil, ob Individuum, gesellschaftliche Zelle, Tier, Pflanze, Mineral, Luft, Wasser, Feuer und jene Erde, von der die Indianer behaupten, sie besitze, wenn auch durch die verachtungsvolle Ignoranz des geschäftemachenden Ungeziefers verwundet, die Kunst, sich zu regenerieren.

Es ist nicht ohne Belang, daß das Gefühl einer Koexistenz zwischen den verschiedenen Lebensformen sich allmählich verbreitet und daß diese Bewußtwerdung nicht durch den aus der himmlischen Unterdrückung entstandenen Geist geschieht, sondern durch den Körper auf der Suche nach der Fülle seiner psychosomatischen Einheit. Sich unter Kindern wohlfühlen, in Gesellschaft von Tieren, unter einem Baum, wenn man einen Stein oder eine Handvoll Erde nimmt - das gehört nicht mehr einer einfältigen Passivität und einem kontemplativen Zustand an, sondern ist der Auftakt zu einer neuen Sprache des einzelnen mit sich selbst und seinen Mitmenschen, eine neue Art, zu sein und zu handeln, die mit den seit Jahrhunderten durch Macht und Rentabilität aufgezwungenen Verhaltensmechanismen bricht.

Das Erwachen zum absoluten Vorrecht, das heute von den Arten der Erde beansprucht wird, begründet einen Lebensstil, eine Haltung, in der das Privileg, zu existieren, von dem Augenblick an ausgeübt wird, in dem ich der Verwirklichung der Lüste den Vorrang vor der Notwendigkeit gebe, die sie durch Bezahlen und Bezahlenlassen verdirbt. Auf meiner Seite steht die Hartnäckigkeit der Natur, die immer wieder neu entsteht - wie der Efeu Risse in den Beton sprengt -, und auf der Gegenseite steht der Verschleiß, der immer noch vom System der Lohnvermittlung und der Ware gefordert wird.

Die menschliche Begegnung mit der allgegenwärtigen Natur bringt einen Entwicklungsvorgang wieder in Bewegung, der die Individuen ihr Schicksal schaffen läßt, indem sie eine Umwelt schaffen, die im Einklang mit den Begierden ist. Das Zeitalter der Ökonomie und einer zu gnadenlosem Frondienst verpflichteten Natur ist nur noch eine sterile und lästige Form, die die Menschheit daran hindert, zu sich selbst zu kommen.

Auf die Umwandlung der libidinösen Energie in Arbeitskraft folgt ein Wille zum Leben, der seine Schaffenskraft vom Reiz des Genusses erhält.


Die Versöhnung mit der Kindheit fällt zusammen mit der Rehabilitierung des zum selbständigen Leben zurückgekehrten Tieres.

Die Rehabilitierung des Tieres

Die Zuneigung für Tiere ist an sich kein neues Phänomen. Man verwechsle sie nur nicht mit dem Mitleid - diesem Geschwür, das zu seiner Ausbreitung Unglück und Leid erregen muß - noch mit dem bitteren Grimm desjenigen, der aus Verachtung für die Menschen seinen Hund liebt. Ich spreche hier von den Regungen eines für alles Lebende offenen Herzens, die ihre Beschwichtigung in einer bevorzugten Beziehung zu einem vertrauten Haustier finden.

Neu ist hingegen die Art und die Beliebtheit einer solchen Fürsorge. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die in der unmittelbaren Umwelt lebenden Tiere - Hunde, Katzen, Vögel, Pferde oder Ziegen -, sie umfaßt die sogenannten wilden Tiere, aber sie möchte sie in ihrer Autonomie und Unabhängigkeit anerkennen, ohne sie zu bändigen oder zu unterjochen. Der Mensch spielt nicht mehr den Herrn.

Muß man daran erinnern, daß sich zu der Bewegung, die Tierarten zu rehabilitieren, ein ganzes Bündel merkantiler Interessen hinzugesellt, die sich plötzlich um das Wohlbefinden jeder streunenden Katze kümmern, sowie ein touristischer Markt, der, nachdem er ausgestopfte Gorillas verkauft hat, jetzt deren letzte Exemplare rettet, indem er ihnen wie den Indianern das Recht zugesteht, in Reservaten zu überleben? Auch hier stimuliert, hemmt und verdeckt die kommerzielle Ausbeutung das Bewußtsein des Lebenden und dessen Willen zur Ausdehnung.

Kaum zehn Jahre hat das Kind gebraucht, um ein Raubverhalten abzuwerfen, das ihm von so vielen Generationen als Wesenszug zugeschrieben worden war. Ohne die Liebe zum Leben führt das Experimentieren, sei es beim Kind oder beim Wissenschaftler, meistens dazu, das Tier wie einen Gegenstand und den Menschen wie ein Versuchskaninchen zu behandeln. Glaubt man etwa, daß die sinnliche Intelligenz, die im Kind das Entzücken der Entdeckung weckt, ohne daß es das Bedürfnis spürt, die Vögelchen aus dem Nest zu nehmen, die Blumen zu zerpflücken oder den Fliegen die Flügel auszureißen, dem Wiederlebendigwerden der Liebe fremd ist?

Wenn das Kind mit einem nicht von der Zärtlichkeit zu trennenden Wissen auf die Eigenart der Lebewesen, der Tiere und der Dinge inmitten ihrer Umwelt neugierig ist, geschieht das nicht, weil eine schrankenlose Liebe ihm das Recht zur Selbständigkeit zugesteht und langsam die archaische und autoritäre Struktur der Familie auflöst?

Eine solche Freiheit wäre nicht möglich gewesen, hätte sich das Verhältnis des einzelnen und der Gesellschaft zur Triebhaftigkeit des Körpers nicht geändert, die so lange mit tierischem Zwangsverhalten identifiziert worden ist.


Die Emanzipation des Körpers

So wie ein Zeitpunkt kommt, da die irdische Ökonomie sich an der himmlischen rächt, die sie im Namen des religiösen Geistes in Verruf gebracht hat, so gibt es eine Rache des Körpers, dessen Arbeit zugleich das Maß einer Zivilisation von Produzenten und die Maßlosigkeit einer Bestialität veranschaulicht, die danach strebt, "jenseits von Gut und Böse" über die Ufer zu treten. Die materialistischen Philosophien, das Denken von de Sade und Nietzsche, die faschistische Ideologie und der Hedonismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts bringen die verschiedenen Stufen einer weltweiten Eroberung zum Ruhm der Ware und des Maschinenmenschen zum Ausdruck.

Während der Körper im Dienste des Kapitals militarisiert wird, reagiert sich das Schamgefühl der verdrängten Animalität durch das gesellschaftliche Zelebrieren aggressiver Roheit ab. Die Landesverteidigung, die Beseitigung des Schwächeren im Konkurrenzkampf das Recht des Stärkeren, das zum Heil der Spezies notwendige Opfer - so viel für "natürlich" gehaltenes Larifari, das wie gerufen kommt, um der kolonialistischen Seeräuberei, dem staatlichen Schutz des Kapitals und der Gleichschaltung des Proletariats eine universelle Grundlage der Vernunft zu geben. So folgt die vergewaltigte und gewalttätige Natur auf die müde Hybris der Götter.

Der Triumph der Muskulatur in der Apotheose der Produktivität findet ein Ventil in der Verherrlichung der irdischen Animalität und der Zelebrierung des Instinkts über den vom Himmel gefallenen Geist. Allein das mechanische Training des Körpers, der auf die Folter gespannt wird, um Zeit und Leistungskraft zu gewinnen, macht das Spektakel der Sportwettkämpfe aus, und sogar das Gehirn bekommt dabei Muskeln und Krämpfe.

Dieser Körper ist aber nur das Gegengewicht des archaischen Kopfes mit seinem Willen zur Macht, seiner Gewinnberechnung, seinem Vortäuschen einer Männlichkeit und seiner Litanei vom Besseren und Stärkeren. Der Anti-Intellektualismus ist nur der zynische Geist der irdischen Ökonomie, welche die Götter, deren Bürgschaft sie nicht mehr nötig hat, der Schmach preisgibt. Es ist der Geist der Konkurrenz, der in Kriegszeiten die funkelnde Disziplin der Armeen sowie die blutige, orgiastische Abreaktion der Schlachten preist und in Friedenszeiten die kriegerischen Tugenden des Sports, der Jagd und der Formel "Platz da, jetzt komme ich!", die bisher als gesellschaftliche Norm gilt.

Man weiß, daß die Arbeit der Zwangskonsumtion aus der autoritären Gewalt der Produktion eine betrügerische Überredungskunst gemacht, und wie weit die rentabel gestaltete Freizeit dem vor Müdigkeit zerschlagenen Körper die kostspielige Prothese des Komforts und der tiefgekühlten Lüste "geschenkt" hat; man weiß schließlich, wie schlecht das trügerische Bild des Genusses gegenüber der Wirklichkeit standhält, die sie täuscht.

Während die Geschäftemacherei in den Olympiastadien zur Abreaktion einer militanten Soldateska benutzt wird - gemäß einem Konkurrenzprinzip, das sich in seiner reinen Zerstörungsfunktion offenbart (wobei das, was für den Fußball gilt, gleichfalls für die Wettbewerbe in Schule, Literatur und Musik gilt) -, beanspruchen heute die Kinder das Vergnügen zu spielen, ohne Angst, verlieren oder gewinnen zu müssen.

Vorbei ist die Verbitterung der unterdrückten Animalität, jener Animalität, die tötet und auf die sich nicht der Liebhaber beruft, der zum Gewehr greift, um ein junges Rebhuhn auf seiner Tafel zu sehen, sondern der sportliche Jäger, dem es weniger darauf ankommt, seinen Teller zu füllen, als durch den Beweis seiner Macht über alles, was sich bewegt, seinen Todestrieb zu befriedigen.

Gewiß wird der Widerwille, ein Tier zu töten, um es zu essen, zusammen mit unseren fleischfressenden Gewohnheiten verschwinden oder er entdeckt eine jener Lösungen, die die gesellschaftliche Veränderung mit sich bringt: So wie eine drohende Überbevölkerung, nachdem sie Abhilfen gefunden hat, die noch schlimmer sind als das Übel selbst - Krieg, Hungersnot, Seuche - heute ein Verhütungsmittel in der aufkommenden Entscheidung findet, nur dann ein Kind zu haben, wenn man es leidenschaftlich und zum eigenen Glück wünscht. Bis dahin ist es ermutigend, daß die Grausamkeit des Jagdsportes der Lust weichen muß, die er unterdrückt hat: Von nun an werden das Aufspüren, die Geduld beim Ansitz und die Geschicklichkeit auf angenehmere Weise angewandt, indem man sich den Tieren in ihrer natürlichen Umwelt nähert, sie beobachtet und photographiert.


Einen menschlich annehmbaren Tod gibt es nur in dem Augenblick, in dem das Werk der ewigen Schöpfung des Lebens sich Ruhe gönnt.

Der denaturierte Tod

Der Tod wurde in der gleichen Zeit von der Denaturierung erfaßt, in der Wasser, Erde, Luft, Feuer, Gestein und die gesamte Tier-, Pflanzen- und Menschenwelt von der Warenverschmutzung getroffen wurden. An die Stelle des natürlichen Endes der Menschen und der Dinge ist eine gesellschaftliche Mechanik getreten, in der das Leben unter dem Vorwand, dem zufallsbedingten Tod der Tiere zu entgehen, darauf beschränkt wurde, sich selbst so elendiglich zu verneinen, daß es sogar das eigene Ende als Gnade erflehte.

Der Zwang, auf die eigenen Begierden zu verzichten, um die zum Überleben notwendige Arbeit zu sichern, füttert Tag für Tag einen Leichnam, der vorzeitig den Platz des Lebenden einnimmt. Meistens ist die Sterbeurkunde das amtliche Protokoll eines Verschleißes, der wie ein legaler Mord wirkt.

Zwar haben die Medizin und einige Einrichtungen zur Bequemlichkeit des Überlebens der Ausbreitung von Seuchen, Altersschwäche, Kindersterblichkeit und einiger gestern noch unheilbarer Krankheiten Einhalt geboten, aber das sollte kein Grund sein zu verkennen, daß der Tod, so wie wir ihn erleiden müssen, aus einem Mangel an Leben, aus einer umgekehrten Ordnung der Prioritäten des Lebens folgt.

Sollte es einen Sieg gegeben haben, dann war es der Sieg des vergesellschafteten Todes über den natürlichen Tod. Wer aber außer den im Sterben Liegenden sollte sich um das außergewöhnliche Fortschreiten der Euthanasie scheren? Ich wäre mit einem Leben zufrieden, in dem der Tod nur ein langer Schlaf nach der Liebe ist.


Die Entweihung des Todes

Wie eine vertrocknete Frucht hat sich der Tod vom Baum der verstorbenen Götter gelöst. Die Parzen sind nur noch der Firmenname einer Spinnerei, in der jedes einzelne Schicksal dem langweiligen Hin und Her der laufenden Geschäfte gemäß gedehnt, verwoben und abgerissen wird. Kann das Sterben banaler empfunden werden als im Zuschlagen der Tür und dem Einklemmen der Finger einer Begierde, die hinaus will, um nach Lust und Laune die Gegend zu durchstreifen? Seit der Sensenmann sich in der Langeweile des Lebens breit macht, hat er seine gleißende Helligkeit verloren und sein Schrecken erlischt fast immer in einer großen Müdigkeit. Er ist die Bitterkeit auf den Lippen der Lust, der Schweiß einer fieberhaften und leeren Tätigkeit, das Erkalten der Liebe, die sich mangels Aufmerksamkeit auflöst.

Es ist ein bekanntes Lied, daß die Leidenschaft, wenn nicht auf die Liebe, dann auf den Tod zugeht. Wie kann man sich die Zeit nehmen zu lieben, wenn sie dem Stress, dem Rhythmus der Maschine angehört, der den biologischen Rhythmus zerschlägt, die Muskeln verkrampft, die Gefühlsregungen hemmt und das Herz bricht? Sich in die Arbeit fügen, heißt sich fügen, in der krankhaften Vertrautheit eines alltäglichen Todeskampfes zu sterben, heißt, jene Strafe auf sich selbst anwenden, die von den weniger barbarischen Nationen aus ihrem Gesetzbuch gestrichen worden ist.

Wir gehören noch zu jenen Generationen, die mit dem Tode ringen, da sie nicht kämpfen, um so zu leben, als ob jeder Tag ein ganzes Leben wäre. Sich gegen den Tod auflehnen, heißt, ihn gegen sich aufbringen, heißt letzten Endes, gegen den von Natur aus vorhandenen Willen zum Leben und für die Denaturierung und die Vernichtung Partei ergreifen.


Hic, nunc et semper

Die Rückkehr zur Natur bedeutet nicht die Regression zum Tier. Die Menschen sollen weder an der Mechanisierung des Körpers noch an dessen Preisgabe an die Härte und die Gefahren seiner Umwelt sterben.

Ich sehe kein anderes Mittel gegen den denaturierten Tod als die Humanisierung des täglichen Lebens.

Jeden Tag so angehen, als ob er die Totalität des - intensiv oder dürftig erlebten - Daseins enthielte, das scheint mir eine Einstellung zu sein, in der das individuelle Schicksal mit vollem Bedacht die sicherste Wette eingeht, um sich zu verwirklichen.

Man mag denken, was man will, wichtig ist nicht, daß es einem gelingt, ein Ziel zu erreichen, sondern daß das Schwingen der Bewegung und das Zittern des Pfeils die Zielscheibe fast vergessen lassen; daß man jeden Morgen hartnäckig die Zeit neu ins Leben ruft, von der eben gepflückten Lust zu der zu säenden mit so aufrichtiger Freude oder Schwermut springt, daß man noch voller Verwunderung dasteht, wenn der Abend oder der Todesschlaf kommt.

Es geht nicht darum, man wird es wohl verstanden haben, besser als die anderen zu leben, sondern einfach in der Alchimie seiner Begierden zu leben. Der Genuß hat kein Pfand, das er dem Geist der Konkurrenz und des Wettbewerbs anbieten könnte, es sei denn, daß er sich selbst verneinen will. Er geht seinen Weg so weiter, als sei er allein auf der Welt, und die Überzeugung, die Welt gehöre nur ihm, verleiht ihm eine Kraft, die die authentischste aller Revolutionen in sich trägt.

Das, was an Energie im Reiz des Genusses steckt, gehört der Schöpfung an und nicht der Arbeit, der Gefühlsbeziehung und nicht länger dem Warenverhältnis, einer Zivilisation, die für die Menschen da ist, und nicht einer, die den Menschen ökonomisiert.

Jeder hat seine Poesie - sei es der Nebel über dem Wald, die Zärtlichkeit der Liebe, der erste Schluck Kaffee, die Schönheit einer Kunst, der Wechselfall des Spiels, das Erwachen des Bewußtseins, die Freude des Tanzes, der Begegnung und der Freundschaft, die Andeutung einer verträumten Melodie, kurzum alles oder nichts. Der Körper muß allerdings in Einklang mit dem stehen, was lebt und jene Fülle in sich aufnehmen, die nur von den kostenlosen Lüsten geschenkt wird.

Die Ewigkeit des Lebens steckt in jedem Augenblick, der dem Lebenden angeboten wird. Durch Hyperion, Non piu di fiori, Le Temps des cerises und den Duft einer Linde wird derjenige - als ob er auf ewig dem Tode entrissen wäre - immer wieder neu geboren, der es mit der glücklichen Ungezwungenheit des Geschenks für sich selbst, das ein Geschenk für alle ist, geschrieben, komponiert, gepflanzt hat.


Der kreative Akt ist das für die Humanisierung der Natur und für das Leben, was die Arbeit für die Denaturierung und für den programmierten Tod ist.

SCHÖPFUNG VERSUS ARBEIT

Durch die beschleunigte Kenntnisnahme der offensichtlichen Wahrheiten wird eine gestern noch in Zweifel gezogene Feststellung in den Rang einer Banalität versetzt: Die ökonomische Ausbeutung hat den Menschen und seine Umwelt an die Grenze eines Überlebens geführt, dessen Höhepunkt mit dem Sturz zusammentrifft.

Die Geschichte der Ware und die Geschichte der Menschen, die sie produzieren, ist ein und dieselbe; sie entwickelt sich, indem sie diejenigen zerstört, die sie machen.

Wir sind also gewarnt und, wenn auch nicht beruhigt, doch zumindest vor so vielen Schrecknissen geschützt, die sich von Jahrhundert zu Jahrhundert bis zum Überdruß wiederholen und die wir als Bestandteile eines Systems kennen, dessen Mechanismen ihren unausweichlichen Charakter verloren haben. Die Apokalypse gehört der Vergangenheit und dem grausigen Gefolge ihrer zyklischen Schrecken an. Die wirkliche Sintflut war niemals etwas anderes als die von den ursprünglichen Mauern der Festung Jericho ausgehende Flut der Warenwerte, die die menschlichen Werte unter den eisigen Wassern des Profits begraben hat.

Die Hochburgen des Lebens, die niemals von den aufeinanderfolgenden Wellen der Wareneroberung geschleift wurden, dienten lange Zeit denjenigen als Zuflucht, die von der Routine der Geschäfte und den gedungenen Leidenschaften erdrückt wurden. Diese Inseln, die unter den alten Namen Liebe, Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Genuß und Kreativität durch das langsame Zurückfließen von neuem auftauchen, kennzeichnen heute die wahren Wege einer menschlichen Gegenwart auf der Erde. Bis heute ist die Revolution nur ein Wechsel des Bühnenbildes in der jahrhundertealten Inszenierung der Ökonomie gewesen. Eine echte Revolution erahne ich nur in der täglichen und individuellen Gestaltung einer menschlichen Landschaft.

Es mußte Amazonien in Brand gesteckt, die Ozonschicht durchlöchert, die Erde verwundet und die Luft verstrahlt werden, damit unter der informatisierten, verbuchten, nach der Eile ihres Tauschwertes zerstückelten Natur eine andere Natur entdeckt wird, die ihre Schätze und ihre Kraft jedem anbietet, der es nicht für nötig hält, sie ihr für eine Handvoll Dollar zu entreißen.

Die Umwelt ändert sich, weil der Blick, das Ohr, der Tastsinn, der Geschmack, das Fühlen, das Denken und die Haltung, die so lange in der einzigen Perspektive der Macht und des Geldes eingesperrt waren, sich verändern. So taucht aus der grauen Langeweile eines untergehenden Universums das Verlangen auf, mitten auf einem Planeten und in einem Leben wiedergeboren zu werden, von denen wir so gut wissen, was sie umbringt, daß sie dem einfachen Blick des Lebens immer noch wie neu und unerforscht erscheinen.


Das Elend der ökonomisierten Schöpfung

Die Werke der Kunst und der technischen Erfindung sind am häufigsten aus der Qual einer verdrängten Kreativität entstanden, die sich nur in wütender Abreaktion ausdrücken konnte. Während die Schaffensfreude durch die Umwandlung der Gewalt der elementaren und chaotischen Triebe entstand, hat die Notwendigkeit zu produzieren die Ausführung des Opus Magnum in eine schmerzhafte Geburt, in einen Fluch verwandelt, der für die Kostenlosigkeit der Gaben der Natur teuer bezahlen muß.

Es genügt nicht, daß der Schaffende - und jeder ist einer - von Kindheit an, seit ihm das Streben nach dem Genuß verweigert wurde, gezwungen ist, auf Selbstverwirklichung zu verzichten; seine Erfindungsgabe muß noch dazu unter dem Zwang zerbrechen und in mühsame Anstrengungen ausarten. Wie viele Erfinder sind nicht - einige glückliche Entdeckungen ausgenommen - zum Schweigen, ja zum Tode verurteilt worden, weil das Objekt ihrer Untersuchungen dem Gesetz des cui prodest - "Wem bringt es Nutzen?" - widersprach. Wie viele willfährige Forscher haben sich nicht an die Macht verkauft? Wie viele Künstler sind nicht vorzeitig verschlissen und proletarisiert worden, da sie ständig in die soziale Arena hinunterstiegen, um Beifall zu erbitten, das Urteil über Verdienst und Tadel hinzunehmen und wie Bürokraten, Politiker und sonstige Höflinge des geistigen und materiellen Marktes ihr Markenzeichen aufzupolieren?

Dennoch kommt es vor, daß der schöpferische Schwung, wie verkommen er durch das Joch der Arbeit auch sein mag, den Abdruck des Körpers behält, der ihm das Leben gab. Eine seltsame Auferstehung: Werke fahren fort, den Lebenden Nahrung zu geben, längst nachdem diejenigen verschwunden sind, die ihre Werke dem launischen Lauf der Zeit überlassen haben. Wer es versteht, das Leben, das er in sich trägt, neu zu beleben, dem ist ein ewiges Leben gewährt. Die anderen, deren Ehrgeiz sich auf den Ruhm beschränkt, werden nichts anderes sein als ein Name in den Katalogen des Gedächtnisses.


Man schafft nichts, ohne sich selbst zu schaffen

Das Ende der Eitelkeiten oder zumindest der Mittel, die dem Ansehen einen Langzeitkredit gewährten, hat den Vorteil, die Kreativität auf ihre wahre Natur zurückzuführen: auf den Selbstgenuß, der sich im Genuß der Welt behauptet.

Dann ist wieder die einfache und vielfältige Dimension des Menschlichen zu erkennen: Wille zum Leben, nicht Wille zur Macht; Echtheit, nicht Schein; Kostenlosigkeit, nicht Gewinnsucht; pulsierendes Begehren, nicht getrenntes Denken; Gabe, nicht Tausch; Anstrengung, die sich in Anmut auflöst, nicht in Zwang; Brennpunkt des Unersättlichen, nicht des Unbefriedigten. Wenn sie auch ganz in die Macht der Arbeit verstrickt bleibt, so öffnet die Kreativität doch allmählich die Türen des ökonomischen Kerkers, sie läßt der von allen gemachten Poesie freien Lauf, ermutigt die fröhliche Wissenschaft in ihrer vielfältigen Freiheit zu singen, zu komponieren, zu schreiben, zu gärtnern, zu träumen, zu tanzen und eine Welt auf den Trümmern einer Welt zu erfinden, die durch die Herrschaft der fortschreitenden Ausbeutung geplündert worden ist. Würde die Kreativität sich damit begnügen, das Kreuz des Unglücks aus dem Gewissen zu reißen, das die Notwendigkeit, Geld anzuhäufen und zu herrschen, in den Willen, nach eigenem Gutdünken zu leben, eingegraben hat, hätte sie mehr für das Glück der Menschheit getan als alle Revolutionen zusammengenommen, die dessen Hoffnung programmiert haben.

Zweifelsohne ist die Zeit gekommen, den Göttern jene Schöpfung der Welt abzunehmen, die ihnen so fälschlicherweise anvertraut wurde, und von der sie einen so jämmerlichen Gebrauch gemacht haben. Diese Schöpfung gehört nur den Menschen trotz ihrer täglichen Resignation, sich ihrer zum Profit der Arbeit zu entledigen. Sie wird ihnen mehr und mehr als ihr unbestreitbares Vorrecht erscheinen.

Heutzutage ist ihnen die dumme Idee vergangen, widersinnig zu beten und Gott zu danken, daß er ihnen das Brot gibt, das sie erzeugt und im Schweiße ihres Angesichts verdient haben. So viele, dem Nichts vorgeworfene menschliche Reichtümer regen endlich dazu an, sich an sich selbst zu wenden, und zwar nicht aus Anmaßung und jenem eitlen Individualismus, in dem das Individuum sich verneint, sondern aus Lust zu schaffen und sich selbst zu schaffen.

Die Versöhnung mit der zu rettenden Natur ist untrennbar von der Versöhnung mit sich selbst, dem werdenden Schöpfer, der sein Heil überall entdeckt - nur nicht in der Arbeit. Langsam finden die wirkliche Einheit des Körpers, die Symbiose des begehrenden Wesens und der irdischen Natur und die große Übereinstimmung des Lebenden, die die Herrschaft des Geistes und des getrennten Denkens abschaffen wird, ihre Grundlage in der Schöpfung.


Die Arbeitslosigkeit - eine Arbeit ohne Arbeit

Es ist nicht wichtig, daß die Arbeit abgeschafft wird; sie schafft sich von selbst ab, sie erschöpft sich, indem sie den Menschen und die natürlichen Ressourcen erschöpft. In der Untertänigkeit aber, im Mangel an Intelligenz und Vorstellungskraft, die in Verhalten und Gewissen weiterhin die Erinnerung an ihre vergangene Nützlichkeit und die Angst vor ihrer gegenwärtigen Harmlosigkeit propagieren, darin besteht das wahre Unheil einer Ökonomie, die im Sterben liegt und die gesamte Welt unter der Fahne des Realismus und der Rationalität in den Tod führt.

Die Macht der Arbeit hängt vor allem von der Schwäche und der Selbstverachtung ab, die sie verewigt - aber welch furchterregende Macht und welch verheerende Wirkung auf jene soziale Schicht, die im Volk als "arbeitslos" und in der Geschäftswelt als "stellenlos" bezeichnet wird! Welches Manko, dessen beraubt zu sein, was einem das Leben raubt!

Unter dieser abwertenden Bezeichnung steht der Arbeitslose da wie unter einem Hut des Mitleids und des Spotts: Er ist überhaupt nichts mehr, da ja nur die Arbeit den Menschen macht. Bisher Lasttier mit der Sicherheit, einen Stall zu haben, ist er jetzt ein streunender Hund. Kraft der sittlichen Natur der Arbeit hatte er ein Anrecht auf Lohn; daß er sich nicht länger plagt, erniedrigt ihn auf einen quasi unmoralischen Stand, in dem es sich gehört, für das Almosen den Kopf zu beugen, zu schweigen und sich über die Annehmlichkeit, seine Zeit immerhin nicht mehr in Mühe und Langeweile zu verlieren, zurückhaltend zu äußern.

Aber die "Pflicht" hat sich wie eine Krankheit dermaßen eingeprägt, daß die Arbeitslosigkeit als Arbeit vor den Werkstoren empfunden wird, selbst wenn draußen wie drinnen dieselbe Nutzlosigkeit herrscht; mit dem feinen Unterschied allerdings, daß die eine bezahlt wird und die andere nicht (man weiß sehr wohl, daß die rentablen Sektoren zur Bürokratie und zur Produktion von Dingen ohne Gebrauchswert gehören, wohingegen die Landwirtschaft und die Industrien, die die Grundbedürfnisse decken, für lebensunfähig erklärt werden).

Durch die Leere, die ihre wilde Aktivität hervorruft und ausgleicht, wirkt die Arbeit wie eine Droge. Der Lohn sichert die regelmäßige Versorgung, sein Wegfall unterbricht sie, führt zum Mangel und treibt in Verwirrung, Verzweiflung und Panik.

Wenn es auch für denjenigen, der seine Augen auf den farblosen Horizont des Überlebens gerichtet hält, wahr ist, daß die Arbeitslosenunterstützung nicht den Frühling verheißt, so muß man schon mit der Blindheit eines Süchtigen geschlagen sein, um nicht den Reichtum einer plötzlich von allen Verpflichtungen befreiten Zeit zu würdigen. Statt nach einer Einstellung zu heulen wie ein Morphinist nach dem Mond, sollte man aus der eigenen Kreativität Funken schlagen und gemeinschaftlich die Aufgabe angehen, die für unmöglich gehalten wird, weil das ökonomische Vorurteil sie verbietet - die Einführung des Kostenlosen.

Der mit der Notwendigkeit der Arbeit getriebene Schwindel ist die langsamste und somit die tröstlichste und grausamste Art, mit dem Leben Schluß zu machen. Es gäbe etwas Ergreifendes im selbstmörderischen Sichgehenlassen der Massen - die im Rhythmus einer leerlaufenden Maschine an- und abschwellen, während das Kapital auf Konkurse lauert, in die es sich investieren kann -, wäre da nicht das Lächerliche, in das sie sich verrennen, um neben der Quelle zu verdursten.

Das freiwillige und herzzerreißende Elend der Arbeiter und Arbeitslosen stützt sich auf die eigene grundlegende Dummheit, die bei den Protestmärschen von Streikenden zutagetritt, die die Niederlegung der Arbeit in eine echte Arbeit des Protestes verwandeln, so daß die Straßen vor Langeweile stinken. Was für eine erbärmliche Phantasie haben diejenigen, die die Beförderung der Briefpost zum allgemeinen Ärger verhindern und die öffentlichen Verkehrsmittel lahmlegen, während fast nur die leitenden Behörden - die Mafiosi des Staates, denen man die Gebühren bezahlt, und die sich weigern, sie als Gehälter wieder auszuzahlen - ein trauriges Gesicht machen würden, wenn Briefe ohne Briefmarke ihre Empfänger erreichen und Züge, U-Bahnen und Busse der Mehrheit zum Nulltarif zur Verfügung gestellt werden. Die Kostenlosigkeit erschreckt, weil sie natürlich ist. Aber wer hätte heute Gründe, sich zu beunruhigen, wenn die über Preiserhöhung und Lohnsenkung Unzufriedenen auf den Gedanken kämen, nicht mehr dafür zu bezahlen, wenn sie fahren, wohnen, sich ernähren, ihre Meinung äußern, sich treffen, miteinander in Verbindung treten, sich vergnügen und Kraft schöpfen wollen?


Die ökologische Umstellung der Ökonomie ist ein vorhersehbarer Durchgang zum Zeitalter der neuen Sammlerkultur.

Die Investition in die Ökologie bietet der Ökonomie eine letzte Gnadenfrist

Das Paradoxe an dem ökonomischen Totalitarismus, dessen Logik zum weltweiten Völkermord führt, besteht darin, daß er sich selbst dazu verurteilt, gemäß dem Gesetz eines Profits unterzugehen, dessen Gier ihm andererseits befiehlt fortzubestehen. Die Ausbeutung der Natur gehorcht einem Todesprinzip: Sie verwandelt das Lebende in eine Ware und gründet ein Reich, in dem die Menschen nur noch Schatten ihrer selbst sind. Das Jenseits des Styx war niemals etwas anderes als das Diesseits der Erde. Dagegen hat die Verlockung des Gewinns, erste Ursache einer unabwendbaren Plünderung, einen Horror vor dem Nichts. Sie versteht es, die Dauer eines Privilegs zu verlängern und zu vermeiden, das Huhn zu schlachten, das goldene Eier legt; sie weiß, daß man das Lebendige schonen muß, weil man aus einer Leiche nur noch Haut und Knochen herausbekommen kann.

So entdeckt die Ökonomie im beschleunigten Rhythmus der sich mit ihr ausbreitenden Versteppung eine Gelegenheit zum Überleben, indem sie das wiederaufbaut, was sie nicht weiter zerstören kann, ohne ihre Rentabilität und ihren Kredit zu verlieren. Die Alternative, vor der das ökonomische System steht, heißt Todesurteil oder Gnadenfrist. Entweder vollzieht die Warenzivilisation ihre eigene Vernichtung, indem sie diejenigen vernichtet, die sie erzeugt haben, oder sie erlischt mit dem letzten Mehrwert, der ihr durch die Wiederherstellung der Natur gewährt wird.

Die natürlichen Energien und das Sanierungsprogramm der Erde bieten gleichzeitig einen Absatzmarkt für die Rentabilität, die grundsätzlich durch die Vergewaltigung und Verunreinigung der Ressourcen bedroht wird, und eine Chance für die Kreativität, die das Joch der Arbeit zerbricht und die Ära der Kostenlosigkeit vorbereitet.

Je entschiedener die Ökonomie den schwindenden Kredit ihrer allerletzten Kräfte in die Ökologie investiert, desto leichter werden die Fallen der Ware umgangen und desto näher am Körper und am Bewußtsein wird die Wirklichkeit einer radikal anderen Zivilisation sein.


Das Umfeld des Lebens und seine örtliche Gestaltung

Nichts sollte heute unternommen werden, weder Großes noch Kleines, das nicht von dieser neuen Banalität durchdrungen ist: Die Ideologie der Arbeit hat die Wirklichkeit einer Natur erzwungen, die einem Fron- und Steuerzwang unterliegt und von der nichts zu erhalten ist, was nicht mit Gewalt genommen wird. Die veränderte Perspektive - von einem Auge wahrgenommen, das müde geworden ist, nur noch Häßlichkeit und Ruinen betrachten zu müssen - enthüllt eine andere Natur, deren Urstoff ohne Gegenleistung zugleich ihre Ressourcen und die Erfindungsgabe anbietet, von ihnen Gebrauch zu machen, ohne sie je zu erschöpfen.

Das, was sich in den Denk- und Verhaltensweisen abzeichnet, läßt das Aufkommen einer Übergangsphase zwischen dem Zusammenbruch der Ökonomie und einer Zivilisation der Kreativität ahnen, zwischen der Arbeit und der Schöpfung, der Warenwucherung und dem von der Natur selbst ausgehenden Überfluß, dem abstrakten Menschen und dem Selbstgenuß, der Warenausbeutung und der neuen Sammlerkultur.

Wer wird nun gegen die stümperhafte staatliche Planung und die Befehle "von oben" vorgehen? Kleine örtliche Gruppen, Dörfer oder Stadtviertel zögern nicht, die Verteidigung ihrer Umwelt auf den Tisch der internationalen Debatten zu bringen, die Lagerung von Giftstoffen zu denunzieren, die industrielle Verschmutzung zu verbieten und Ersatzlösungen zu fordern.

Dort werden vielleicht die ersten Wind- und Sonnenkraftwerke entstehen, die das öffentliche und private Monopol der Gas- und Elektrizitätsgesellschaften sprengen. Dort kann die Entwicklung der biologischen Landwirtschaft die Herstellung verfälschter Nahrungsmittel verdrängen, den Müll auf natürliche Weise wiederaufbereiten und die Produktion von Stoffen verhindern, deren Abfälle nicht wiederverwertbar sind.


Die Stadt der Natur öffnen!

Es geht um nichts mehr und nichts weniger als um die Schaffung eines Lebensraumes, der für Gefühl und Körper zugleich Nahrung bietet. Gerade dieses Projekt wurde von der KZ-Landwirtschaft, von ihren Anfängen bis zu ihrer industriellen Verlängerung im modernen Urbanismus, in Acht und Bann getan; so wurden die Menschen von ihrer Natur getrennt und in einen Krieg gegen sich selbst und ihre Umwelt hineingezogen.

Was wir jetzt haben, ist die Lethargie der toten Städte. Das Labyrinth, das einst dem umherschweifenden Spaziergänger freigegeben war, hat vor breiten, durch das Raster der Langeweile geprägten Alleen und vor Betonmauern weichen müssen, wo der Kopf mit dem Echo des Verbrechens zusammenprallt - denn wer verlernt zu leben, lernt zu töten. Hat man sich vorgestellt, daß ein paar Fußgängerzonen und die Vermehrung von Grünanlagen ein städtisches Gefüge vor dem Erstickungstod retten können, das die Ausstattung der Supermärkte reproduziert, in die die Natur nur unter Plastikverpackung vordringt?

Die Stadt menschlich machen heißt, ihren Zugang zu den natürlichen Ressourcen sichern. Die Flächen, die die letzten Viertel isolieren, in denen es sich gut wohnen und bummeln läßt, rufen nach einer wirklichen Urbarmachung. Die Gebäude der staatlichen, bürokratischen, militärischen, finanziellen, polizeilichen und religiösen Nutzlosigkeit, die unbebauten Gelände, die Plätze, die durch Abgase verpesteten Straßen und Boulevards - all das gäbe schöne Gemüsegärten zu jedermanns Vergnügen, bis ein schöpferischer Geist, der dort üben könnte, Besseres schaffen würde.

Es gibt kein anderes Mittel, die Arbeit loszuwerden, als der Kreativität des einzelnen das Vertrauen zurückzugeben, das ihm bisher wenn nicht versagt, so doch nur kümmerlich zugestanden wurde.

Im Gegensatz zur herrschenden Untätigkeit und zur Konditionierung durch das Geld sollte von nun an die Schaffung einer natürlichen Kostenlosigkeit, deren erstes Modell die sanften Energien darstellen, jede Forschung leiten. Das Ende der lohnabhängigen Produktion und der Zwangskonsumtion schließt das Ende der Ausbeutung der Natur und die praktische Durchführung einer neuen Sammlerkultur als das einzige Unternehmen ein, das der Vielfalt der technischen Entdeckungen eine echte Wirksamkeit und einen wirklich menschlichen Sinn zurückgeben kann.


Von der Arbeit zur Schöpfung

Damit die Schöpfung die Arbeit ersetzt, muß an die Stelle der Ökonomie der Denaturierung eine Ökonomie treten, die bereit ist, ihren letzten Profit aus der Sanierung der Erde und der Gewinnung sanfter Energien zu erzielen.

Der stufenweise Übergang von den Fabriken zu den Werkstätten der Schöpfung wird zumindest den Vorzug haben, jenes Vorurteil in Zweifel zu ziehen, das die Kostenlosigkeit mit einem ungewöhnlichen und unpassenden Geschenk, einem Formfehler im Tauschprozeß und einer unmoralischen Belohnung des Nichtstuers gleichsetzt. Hier findet sich die Gleichsetzung der Lust mit einer Entschädigung für geleistete Arbeit, mit einer Belohnung durch die Götter, mit der Erholung des Kriegers oder mit der Entspannung des Körpers wieder.

Die Künstler, die lange Zeit als die einzigen Schöpfer galten, haben sehr wohl gewußt, aus welcher Summe von Enttäuschungen und wiederholten Anstrengungen die Legierung der Inspiration entsteht. Die Gabe zu schreiben, zu komponieren, zu malen, zu gärtnern, zu liebkosen, zu träumen, zu sehen, zu kosten, die Welt und das Leben zu verändern, fällt nicht vom Himmel - sie ist die Kostenlosigkeit, die sich selbst schafft, sich aus dem Magma der Triebe herauswindet und sich von Mißerfolgen zu Neuanfängen schleppt, um eines Tages in einem Augenblick voller Glück und Anmut aufzublühen.

Allein eine beharrliche Ausdauer erlaubt es, jene Selbstvollendung zu erreichen, aus der sich alles Glück des Schattens ergibt. Aber all die fieberhafte Hartnäckigkeit läßt sich niemals mit einer Arbeit verwechseln. Die Schöpfung kennt keine Hölle, denn sie ist zugleich der Genuß und die Suche nach dem Genuß, die Bewegung und ihr Ziel. Die Wut ihrer ungestillten Begierden verwandelt sich nicht in jene Reaktion des Verzichts, die das Wesen der Arbeit ist, sondern sie baut noch besessener wieder auf, was zusammengestürzt war.

Soll die Schaffenskraft nicht verlorengehen, darf sie nicht dem Zwang gehorchen; sie wird durch die unwiderstehliche und oft nicht zusammenpassende Kraft der Begierden angetrieben. So kämpft sie, ohne verlorenzugehen, und wächst in dem Maße, in dem sie gibt - im Gegensatz zur Arbeit, die unter Verschleiß und Erschöpfung vonstatten geht. Denn die Schöpfung geht aus einer Natur hervor, die ihre Schätze demjenigen anbietet, der sie einzusammeln versteht, und nicht aus einer Natur, die durch Unterdrückung und Glanz des Geldes geschändet wird. Man arbeitet gegen sich selbst und gegen die anderen - schöpferisch ist man für sich selbst und für die Lust aller.


Schöpfung und Hinauswachsen

Die experimentelle Intelligenz, die das Feuer, das Rad, das Boot und das Werkzeug erfunden hat, richtet sich nach dem Beispiel der Natur, um deren Substanz zu vervollkommnen. Vom Unterschlupf einer Höhle bis zum gastlichen Haus sind die verschiedenen Stadien der Entwicklung über den mütterlichen Bauch hinaus sichtbar, während das Backen von Brot, das Brauen von Bier, die Zubereitung von Soßen und warmen Gerichten die kulinarische Verfeinerung des ursprünglichen Nahrungsbedürfnisses zum Ausdruck bringen. Der ganze, durch den Produktionszwang gebrochene und diskreditierte Schaffensprozeß wurde durch die spezifisch menschliche Befähigung bewirkt, über die tierischen Triebe hinauszuwachsen und von der Umwelt die Mittel zu erbitten, die für das Werk der Vervollkommnung nützlich sind. Die Schaffung seiner selbst schöpft ihre Kräfte aus der sich selbst erschaffenden Natur, um sie nach dem Bild der menschlichen Natur neu zu erschaffen. Die ersten Religionen haben diese Kräfte, die wohl am Anfang des Zeitalters der Ökonomie noch wahrnehmbar waren, schleunigst in Geister verwandelt, mit denen sie die Quellen, die Wälder, die Luft und die Tiefen der Erde bevölkerten. Sie wurden als feindliche Gottheiten verkleidet, deren Gunst durch blutige Opfer erkauft werden mußte.

Über das Durcheinander der Trennungen hinaus - jenes Kopfes, der im ständigen Konflikt mit der Energie der Libido stand und die Fähigkeiten des Individuums, seinen Geist, die Gefühle, die Muskeln, die Triebe und die Physiologie auf ein Minimum reduzierte - lernt heute der Körper als Ganzheit, sich der gleichzeitigen Schaffung des individuellen Schicksals und seiner Umwelt zu widmen. Es ist so, als ob die alte Fatalität, die die Fügung in die göttlichen Entscheidungen lehrte, sich in die Fatalität verwandelte, das triebhafte Chaos der lebenden Materie, jener untrennbar aus Körper und Natur bestehenden Substanz, ordnend zu einer großen Fülle zu gestalten. Unmerklich wird amor fati zu fatum amoris.

Derjenige, der begehrt, ist selbst der Gott, der erhört.


Die Alchimie des Ichs ist die bewußte Schöpfung des individuellen Schicksals.

DIE ALCHIMIE DES ICHS

Die der merkantilen Praxis innewohnende Rationalität hat die althergebrachte Alchimie in eine Nacht zurückgeworfen, wo sie lange im Feuer einer geheimen Wissenschaft geleuchtet hat. Doch beschränkten sich ihre Parallelsprache und ihre Verfahren meist darauf, den ökonomischen Prozeß in ein Kohärenzfeld zu verlagern, in dem das irdische Salz Gold und den himmlischen Geist erzeugt. Wenn sie sich nicht bereichern wollten, trachteten die Alchimisten der Vergangenheit (bis auf die Behutsamsten, die wohl die Ufer einer anderen Wirklichkeit erreicht haben) nach der Macht, die Menschen und Dingen befiehlt.


Die denaturierte Alchimie

In einem bestimmten, ganz gewöhnlichen Sinne befindet sich die Alchimie heute in einem Zustand der permanenten Verwirklichung. Die Umwandlung von Blei in Gold und von libidinösem Stoff in Intellektualität geschieht durch eine hygienische Aufbereitung der Abfälle und Exkremente, die von dem "marketing" genannten Verfahren geklärt, dem Konsum angepaßt und in Umsatz verwandelt werden. Das, was vom Opus Magnum übrigbleibt, ist zu einem absatzfördernden Produkt mit hohem Tauschwert und Nullqualität geworden.

Ein dermaßen lächerliches Geschick reicht nicht aus, um das Werk des Doktor Faust zu rehabilitieren, das die Spaltung von Körper und Geist gutheißt, so wie sie durch die Dualität von Hand- und Kopfarbeit erzwungen wird. Damit wird eine natürliche Alchimie des Körpers negiert, die ursprünglich und spontan auf der Empfängnis des Kindes in der mütterlichen Retorte gründet und um jener universalen Umwandlung willen der Verwirklichung des Menschlichen - durch die Liebesglut zur Welt gebracht wird.

Einem immer noch bestehenden Vorurteil gemäß baut jeder Luftschlösser und schmiedet Pläne für Erfolg und Glück, die von den Schicksalsgöttern dann boshaft vereitelt werden. Wir wissen, daß es dieses Schicksal nur innerhalb jenes Laufs der Dinge gibt, der seit Jahrhunderten der Erde und den Menschen aufgezwungen wurde; ein Lauf der Dinge, der heute so altmodisch und zerbrechlich ist, daß er nur noch dank eines resignierten Gehorsams und der Trägheit der mechanisch erworbenen Sitten und Verhaltensweisen fortbesteht.

Der Bruch zwischen dem, wofür das Lebende sich allen Widerständen zum Trotz entscheidet, und der Ökonomie, die anstelle des Lebenden entscheidet, hat endgültig das Geheimnis eingebüßt, in dem er unter dem Vorwand eines ewigen Fluchs fortlebte. Die Alchimie der Selbstschaffung und des Selbstgenusses ist durch eine Zivilisation gehemmt und umgekehrt worden, in der die Arbeit über die Lüste herrscht. Jedesmal, wenn das menschliche Wesen den Produzenten hervorbringt, versagt es sich, zu sich selbst zu kommen.

Das ist die Banalität einer Alchimie der Rückbildung: Unsere eigene lebendige Substanz verwandelt sich in tote Materie, und zwar - Gipfel der Ironie - um den Preis der größten Anstrengungen.


Die Behandlung des Negativen ist die tägliche Auflösung des Leichnams im Kessel der Genüsse.

Die Behandlung des Negativen

Der Ausdruck "schwarzen Gedanken nachhängen", der sich so schön mit der Bilanz und der kritischen Überprüfung einer zum Absterben programmierten Welt verbinden läßt, bringt die negative Finalität einer Existenz, die vom Geldfieber befallen ist und unter ihren verfaulenden Begierden in der Falle einer toten Kindheit sitzt, genau zum Ausdruck.

Wie bei jeder Alchimie ist das, was innen ist, auch außen. Eine gallige Gemütsart verdirbt die Gesichtsfarbe, während die schädlichen Abgase das Farbenspiel der Wälder erlöschen lassen; Baum wie Holzfäller werden vom Krebs befallen. Gesten und Gedanken sind von Verbitterung und Aggressivität so besudelt, daß man manchmal meint, die Natur erteile ihrer organisierten Plünderung eine Art unerbittlicher Antwort - als ob sie, wenn sie in ökologischen Katastrophen zusammenzuckt, ein Ungeziefer von sich abschütteln wollte, das schwachsinnig genug ist, dem Leben den Profit vorzuziehen, der es verschmutzt. Unter dem Blickwinkel der ausweglos herrschenden Ökonomie verbreiten Individuum, Gesellschaft und Erde einhellig einen Geist des Todes. In diesem Fall hat die negative Phase im Gegensatz zur herkömmlichen Alchimie nicht die Bedeutung einer Gärung, aus der der Stein der Weisen als Positivum hervorgeht. Es gibt nur klebrige Zustände, die überall "Pech" bringen und im Herzen des Menschen und des Erdballs ein und dieselbe Bestimmung zum Unglück erzeugen.

Nach der Ausrichtung ihrer Träumereien, Voraussagen und Prophezeiungen kann man über die Absichten urteilen, die diejenigen, die sich selbstgefällig "Sterbliche" nennen, für sich selbst hegen. Wie viele Szenarien, die immer wieder im Kopf entworfen werden, laufen nicht auf das Schlimmste hinaus, wie viele setzen nicht hauptsächlich auf die Karte des Mißerfolgs und der Enttäuschung? Kommt es aber einmal vor, daß sie durch einen Überschwang an Optimismus den glücklichen Ausgang einer Unternehmung vor sich sehen, so geschieht dies nie ohne Vorbehalt und inneres Zögern. Nur selten ist das Herz gewichtig genug, um dem als ausweglos eingeschätzten Unglück die Waage zu halten.

Heißt nicht, gute oder schlimme Vorzeichen für Vorboten irgendeiner Fatalität halten, schon vor dem großen Unkontrollierbaren aufgeben und sich auf dem Weg zum Niedergang befinden? Es ist doch wahr, daß derjenige, der sich auf so viele Ernüchterungen einstellt, den Ereignissen keine günstige Wendung geben kann.


Wir, die wir ohne Ende begehren

Ist es überheblich zu meinen, daß eine zur gemeinsamen Zerstörung des Ichs und der Welt beitragende Energie sich sozusagen um sich selbst drehen und mit derselben Festigkeit und mit noch größerem Vergnügen die Richtung des zu schaffenden Lebens einschlagen kann? Wenn ich nur intensiv von einem mich völlig befriedigenden Glück träume, habe ich das Gefühl, eine Art Selbstverständlichkeit beteilige sich an meinem Begehren und begünstige es. Dies ist eine Art von "Es muß sein" [deutsch im Original (Anm.d.Ü.)], den Göttern entrissen und der Anziehungskraft des Lebenden zurückgegeben, eine Fatalität, wo der Wirbel von Lust und Unlust in das sprudelnde Leben und niemals in das Verhängnis der toten Genüsse eindringt. Dann gibt es keinen Platz mehr für Dünkel, Erfolg, Mißerfolg, Wettkampf.

Allerdings ist nichts unbequemer als diese Selbstbesinnung und dieses Zurückfinden zu sich selbst, bei dem die verdrehte Welt sich wieder umkehrt. Ich weiß zu genau, wie sehr die Lebenslust ständig aufgefordert wird, nachzulassen und zu verzichten, als daß ich die Wichtigkeit unbeachtet lasse, die in den kommenden Jahren einem vom Lustprinzip bestimmten Lernprozeß des Kindes beigemessen werden muß.

Die Beachtung, die den Genüssen eines jeden Augenblicks geschenkt wird, stärkt viel sicherer den Willen zum Leben als all die Beschwörungen der Intellektualität. In allen Umständen nur die Annehmlichkeiten wahrzunehmen, die aus ihnen zu holen sind, stellt eine Priorität auf, in der die Allgegenwart der Arbeit verschwindet und ihre Notwendigkeit sich auf eine Anzahl mechanischer Griffe beschränkt, die man ausführt, ohne sich vollends hineinstürzen zu müssen. Ist das Herz nicht in eigenen Nöten befangen, so ist es imstande, sowohl sich selbst als auch das eigentliche Herz des Lebens zu retten: die Ausübung der Lust, bei der man darauf beharrt, ohne Ende zu begehren, welche Hemmnisse und Rückschläge sich auch in den Weg stellen mögen.


Die Erprobung ist die Zeit, in der die Genüsse aufbrechen.

Die Verfeinerung der Begierden bringt Erprobungen mit sich, die die Erinnerung an die heldenhafte Minne wachrufen, die der Ritter um der geliebten Dame willen vollbringt. Allerdings muß die Erprobung von der ökonomischen Bedeutung befreit werden, die ihr der ritterliche Geist verleiht. Die Wahrheit der Leidenschaften verlangt keinen Beweis der Tapferkeit oder des besonderen Verdienstes; sie schließt vor allem den Verzicht, das Opfer und jene Selbstverleugnung aus, durch die der auserwählte Ritter die Macht, das Heil der Seele und die Reinheit des Geistes erlangt, die die Geliebte mit ihrer Gunst bezahlt.

So widerlich die Geduld in der Resignation und im Hang zum Leiden ist, so sehr offenbart sie ihre positive Natur in der Suche nach den Genüssen und den verfeinerten Begierden. So wie für den Steinbrech der Felsen, sind die Hemmnisse etwas, das aufgebrochen, umgangen, einverleibt, verdaut und zu einem Bestandteil der Leidenschaft wird. Die Geduld bringt Klarheit in die Heftigkeit des Begehrens, verfeinert und verstärkt sie in dem Gefühl eines unaufhaltsamen Fortschreitens. Durch ständiges Lernen soll vermieden werden, aus einer noch unerfüllten Begierde eine verdrängte Begierde zu machen. Die Erprobung ist der unvermeidliche Drache des Negativen, der aus den Tiefen des Ichs heraufsteigt und der durch das Fehlen und die Unkenntnis von Angst in einen schätzenswerten Gefährten verwandelt wird. So wird durch den Menschen der Begierden das alte Bild des fahrenden Ritters, der allein zwischen Tod und Teufel umherzieht, der Wirklichkeit des Lebens zurückgegeben.


Die Verfeinerung der Triebe - Grundlage einer neuen Gesellschaft

Nur der in das Alltägliche getriebene Faden der Lust kann mit dem Negativen fertig werden, so wie die Spinne mit der Fliege. Es geht nicht darum, auf die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten zu verzichten, die der Markt des Wohlbefindens jedem zur Verfügung stellt, der sich damit abfindet, sie zu bezahlen und die Unbequemlichkeit zu erleiden, sich opfern zu müssen, um sich zu befriedigen. Es geht vielmehr darum, niemals zu verzichten und stattdessen über das unbefriedigende konsumierbare Vergnügen hinauszugehen, indem man die Voraussetzungen einer natürlichen Kostenlosigkeit schafft.

Fouriers Lehre behält hier exemplarischen Wert. Ihr Ausgangspunkt ist die ökonomische Wirklichkeit: Sie verurteilt nicht die Denaturierung der Leidenschaften, sie geht von ihrem verkommenen Zustand aus, um allein durch die Dynamik der Lust zur Emanzipation der gefesselten Genüsse zu gelangen. Sie geht von der Ökonomie aus, nicht um ihre Zerstörung, sondern um ihre Auflösung herbeizuführen.

Die Reichen, die sich Fouriers Gemeindesystem angeschlossen haben, behalten ihr Geld, ihre Privilegien und ihren Rang. Sie geben zwar nichts von ihren gesellschaftlichen Vorrechten auf, aber die Tafel, die Geselligkeit und die Leidenschaften der Armen stehen ihren weder an Feinheit noch an Wollust nach. Überdies zeigen sich letztere natürlicher und legen ein weniger steifes und geziertes Benehmen an den Tag. Nach und nach verschwinden dann die Unterschiede und die Hierarchie verwischt sich. Die souverän gewordene Suche nach einer Harmonie der Leidenschaften begründet radikal neue gesellschaftliche Beziehungen auf der Dialektik des Einklangs und des Mißklangs, der Zuneigung und der Abneigung, der Sympathie und der Antipathie.

Fourier hatte vor, die Funktionen und die Rollen durch die Vorliebe für die Genüsse aufzulösen. Der einzige Nachteil dieses Projektes war, zu einer Zeit entstanden zu sein, als der große Sprung der Ökonomie nach vorn die Illusion eines für alle unmittelbar bevorstehenden Glücks verstärkte. Die Entwicklung des Kapitalismus ließ - wie der Anbruch des Tages in der höllischen Nacht der Produktion - eine Gesellschaft des Wohlstands erahnen, in welcher der technische Fortschritt für die Bedürfnisse aufkommen und das Paradies auf Erden einleiten würde.

Die völlig vernünftige Hoffnung auf ein Reich der Waren, in dem der Produzent sich das Recht herausnehmen würde, die Früchte seiner Arbeit zu konsumieren, verkündete lauthals eine Prophezeiung, die sich mit den sozialen Kämpfen und der Ökonomie besser in Einklang bringen ließ als das Trompetensignal des Gemeindesystems. Letzteres trieb die Leidenschaften mit dem Beiklang eines gewissen Kasernenhofgeistes und einem Schwung zusammen, der im Endeffekt recht mechanisch war.

Erst als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die von den prometheischen Denkern des kapitalistischen Aufschwungs erdachte Utopie des Wohlstands endlich verwirklicht wurde, fand man heraus, daß das Paradies der Konsumenten eine klimatisierte Vorhalle des Todes ist, deren Wände Langeweile, Angst und Unbefriedigtsein ausschwitzen.

Die Bewegung des Mai 1968 hat nicht nur die Bankrotterklärung der Ökonomie und des Glücks auf Kredit unterzeichnet, sie brachte vor allem zum Bewußtsein, daß das Existenzminimum - das Recht für alle, sich zu ernähren, sich auszudrücken, den Ort zu wechseln, zu kommunizieren, zu schaffen, zu lieben - nicht das Endziel der Menschheit darstellt, sondern ihren Ausgangspunkt, die Grundlage für jenes Hinauswachsen, ohne das es nur eine unmenschliche Gesellschaft geben kann.


In der Umwandlung des Ichs ist die Umwandlung der Welt enthalten.

Jeder einzelne ist selbst die ganze Erde mit ihren Katastrophen und ihrem Gedeihen, ihrem Gemetzel und ihren Geburten, ihren Kriegen und ihren Inseln des Friedens, ihren Jahreszeiten, ihrem Klima, ihren Unwettern, ihren Wirbelstürmen und Erdstößen, ihren feuchten, trockenen, glutheißen und gemäßigten Zonen.

Gibt es ein wertvolleres Wissen als den Willen, über sich selbst zu verfügen, indem man die Umstände zu seinen Gunsten verändert? Sich mit allem, was lebt, einig wissen, erlaubt es am sichersten, die Wirkungen des Todes abwenden zu lernen. Mit dem Negativen ist es wie mit dem Gewitter, das das menschliche Genie sich so gut zu eigen gemacht hat, daß ein Blitzableiter genügt, um es ungefährlich zu machen, um es als Modell für den Lichtbogen zu benutzen und seine Energie eines Tages in den Kreislauf der natürlichen Kostenlosigkeit zu überführen.

Das Magma eines überall gegenwärtigen Lebens wird jenseits der Zerstückelung jener ökonomischen Kategorien entdeckt und neugeschaffen, die ihren Profit aus dieser Zerstückelung gezogen haben. Die törichterweise Gott und den Göttern zugeschriebene Allgegenwart des Lebenden wird in der neuen Symbiose wiedergeboren, in welcher das Individuum die Einheit von Mensch und Erde auf den Genuß gründet. Indem der Mittelpunkt des Weltalls vom Himmel auf die Erde herabgeglitten ist, folgte er der Bewegung der himmlischen zur irdischen Ökonomie. Von nun an liegt er im Herzen des Individuums auf seinem Weg zur Emanzipation, denn es vollzieht sich eine Wandlung, die die zunehmende Souveränität des Genusses über die Ökonomie gewährleistet, die der Schöpfung über die Arbeit, der Zuneigung über den Profit, des Willens zum Leben über den Willen zur Macht, der psychosomatischen Einheit über den getrennten Körper, der lebenden Natur über die ausgebeutete Natur, der Kostenlosigkeit über den Tausch.

Zum erstenmal in der Geschichte beruht das Wohl der Natur auf dem individuellen Lebenswillen: Je nach den Wechselfällen einer ununterbrochenen Suche bestimmt der Genuß eines jeden die Schöpfung der Welt als Gesamtheit der zu schaffenden Genüsse. Die Alchimie des Ichs ist nichts anderes als das unnachgiebige Begehren ohne Ende, jenes Wechselspiel von Zufriedenheit und Unersättlichkeit, das den alten Fluch des Opfers und des Verzichts hinfällig macht.

Viele Lüste, nach denen ich mich sehne, werden nicht in Erfüllung gehen - doch ich bleibe dabei, sie unablässig zu wollen, und sollten einige in Erfüllung gehen, so schöpfe ich daraus die Kraft, die alle anderen stärkt. Ich habe das Gefühl, daß der Mensch des Begehrens sich bereits hier und ohne das Hinausschieben, welches das Schicksal bitter macht, langsam die Macht herausnimmt, den Menschen der Ökonomie zu verdrängen.

Mir liegt wenig daran, ob die Zukunft mir recht oder unrecht gibt. Ich werde meine Lebenslinie nicht auf das gegründet haben, was sie verlöschen läßt, sondern auf eine Herzenslinie, die von der Ernte der Lust bis zu deren Aussaat eine üppige Landschaft zeichnet, die im Grunde die einzige ist, in der ich mich endlich gegenwärtig fühle.


16. Oktober 1989